Architektur

    Bachelor und Master

    Dekoratives grafisches Element

    Access for all

    (05/21)  Nach einer zweisemestrigen Pause startete Anfang Mai die beliebte Vortragsreihe am Mittwochabend – zum ersten Mal in digitaler Form. Prof. Friederike Kluge konnte hierfür drei Referent*innen gewinnen, die zum Thema „Zukunft Entwerfen“ im aktuellen Sommersemester berichten werden.

    Mit dieser Vortragsreihe möchte sie einen Blick in die Zukunft werfen. „Corona hat uns die Digitalisierung in Höchstgeschwindigkeit gebracht“, bemerkt sie bei ihrer Begrüßung und für sie sind dabei folgende Fragen relevant: Welche Visionen haben wir Architekt*innen von der Zukunft? Wie werden sich die Aufgabenfelder des Berufs verändern? Was werden die Fragen von morgen sein, die wir lösen müssen? Und was bedeutet überhaupt zukunftsfähiges Entwerfen und Bauen?

     

    Beim ersten Vortrag erwies sich das digitale Format nun geradezu als Glücksfall – machte es doch möglich, was bei einer Präsenzveranstaltung nicht in dieser Form durchführbar gewesen wäre.

    Denn am 5. Mai 2021 eröffnet Andreas Ruby, Direktor S AM Schweizerisches Architekturmuseum, die Reihe mit einer exklusiven Online-Führung durch die aktuelle Ausstellung, die ursprünglich im Architekturmuseum der TU München zu sehen war. Andreas Ruby habe sich ganz bewusst gegen das Studium der Architektur entschieden, so Kluge, weil er es wichtig fände, dass auch Leute über Architektur schreiben, die nicht Architekten sind. Das mache seine Sicht von außen so wertvoll und interessant – vor allem in dem Moment, wo uns Architekten selbst der Abstand fehle.

    Und tatsächlich erlebten die über 70 Besucher in seinem Vortrag unter dem Titel "Access for All. Architektur als Fortsetzung des öffentlichen Raums mit anderen Mitteln“ eine spannende Reise nach Lateinamerika. Andreas Ruby beleuchtete neue Formen der Produktion von öffentlichem Raum durch einen interdisziplinären Entwurfsansatz von Architektur, Städtebau und Freiraumplanung. Anschauungsobjekt war dabei die brasilianische Metropole São Paulo, die seit Jahrzehnten erhebliche Investitionen in neue architektonische Infrastrukturen tätigt, um die räumliche Enge der Megacity zu kompensieren und dem wachsenden Bedarf nach öffentlichen Räumen für Kultur, Erholung und Sport gerecht zu werden. Die Ausstellung bot eine Perspektive auf eine städtische Baukultur, in der die Architektur Stadtleben aktiv mitgestaltet.


    „Wenn es um die Zukunft von Architektur geht, dann ist die Neuerfindung von öffentlichem Raum eine ganz wesentliche Frage“, bemerkte Ruby schon zu Beginn der Führung. Es bräuchte grundsätzlich sinnvolle Verdichtungsszenarien in Städten. Dabei reiche es nicht, einfach nur mehr Wohnungen und Gebäude zu errichten.  „Wir müssen zukünftig proportional zum Neubau von Gebäuden öffentlichen Raum im gesamten Körper der Stadt bauen“, so Ruby „nicht nur im Erdgeschoss, sondern auch beispielsweise in Hochhäusern." Wie dies gehen kann, zeigte die Ausstellung in beeindruckender Weise.

    Eine zentrale Frage des Museums-Direktors war, wie die Maßstäblichkeit der Architektur dem Besucher näher gebracht werden kann. Historische Pläne zeigen dies dem Laien oft nicht. So hatten Studierenden des Instituts für Architektur der Fachhochschule Nordostschweiz in Muttenz (Lehrstuhl Rahbaran Hürzeler) zahlreiche beeindruckende 1:200 Modelle der dargestellten Gebäude gebaut. In den Modellen sind die konstruktiven Elemente der Architektur aus MDF materialisiert, das mit weissem Make-up Puder beschichtet ist und dadurch einen zurüchaltenden monochromen Look bekommt. Die räumliche Aneignung des gebauten Raums durch Menschen und Objekte werden dagegen farblich hervorgehoben, so dass man genau sehen kann, wie und wo ein Gebäude öffentlichen Raum erzeugt. Dies erzeugt einen ganz anderen Blick auf Architektur.

    Auch die Pläne zeigen diese Spuren der Aneignung des Raums. Menschen und Gebrauchsobjekte werden gleichwertig, aber farblich unterschiedlich (grau) zu architektonischen Elementen (schwarz) dargestellt. Das Projekt der Marquisa von Oscar Niemeyer im Ibirapuera Park gibt es sogar ein Mock-up (ein Ausschnittsmodell im Maßstab 1:1), das eine Stütze und einen Teil des monumentalen Dachs visualisiert, ergänzt durch ein Grossfoto, das die räumliche Situation gut begreifbar im Museum entstehen lässt. Mit Hilfe von Fotos und Videos wird die Nutzung der Gebäude dargestellt, so dass der Laie sich vorstellen kann, welche Dimensionen die dargestellten Gebäude haben.

    Am Beispiel der Stadtautobahn MINHOCAO wird besonders deutlich, wie sich öffentliche Räume durch ihre unterschiedliche Nutzung verändern. An Werktagen ist diese mehrspurige Straße nur für Autos da, die Menschen sitzen in den Fahrzeugen, aber nicht im Straßenraum. An Wochenenden ist die Autobahn für den motorisierten Verkehr gesperrt und dann verwandelt sie sich in einen kilometerlangen linearen öffentlichen Raum, in dem die Leute feiern, spazieren gehen, joggen und Musik machen.

    Ruby zeigte in seiner Führung Gebäude, die ganz viele unterschiedliche Nutzungen – privat und öffentlich - miteinander vereinen. Besonders gut veranschaulichte er dieses am Beispiel eines umgebauten Kaufhauses, dessen Grundriss mittels eines Turmes auf dem Nachbargrundstück von aller Erschließung und Technik befreit wird, um die Fläche auf diese Weise maximal nutzbar zu machen. Entstanden ist eine Landschaft unterschiedlichster Räume, ein komprimierter gesellschaftlicher Ort, der aus unterschiedlichsten freizeitlich, kulturellen und gewerblichen Nutzungen besteht und den Menschen unterschiedlichste Möglichkeiten bietet.

    „Diese Großzügigkeit von Architekten und Bauherren in der Realisierung von Gebäuden brauchen wir in Zukunft“, so Ruby, „um jene öffentlichen Räume zu erzeugen, die wir vielleicht anderswo nicht mehr unterbekommen in der Stadt.“

    Die unterschiedlichen Formen der Nutzung des öffentlichen Raumes, die normalerweise zu unterschiedlichsten Tageszeiten stattfinden, sind in den Plänen gleichzeitig dargestellt – einschließlich dem Verkehrschaos auf der Straße. So erscheinen die Zeichnungen manchmal wie Wimmelbilder mit einer beeindruckenden Dynamik und Lebendigkeit.

    Auf die Frage von Prof. Kluge, woher dieser Gegensatz in der Darstellung komme, da bei uns oftmals versucht werde, den „Störungsfaktor Mensch“ z.B. in Architekturfotos auszublenden, bemerkte Andreas Ruby: „Eine leere Stadt ist ja eigentlich etwas Trauriges, das haben wir ja jetzt in der Pandemie auch gemerkt. Selbst sehr schöne Räume sind trist, wenn sie leer sind“.

    Durch die viel dichtere Bevölkerungsstruktur in Sao Paulo sei das Verhältnis von Mensch und Raum sehr viel intensiver, und es sei dort nicht vorstellbar, dass ein Gebäude oder ein Platz überhaupt leer ist. In der brasilianischen Stadt gibt es demnach nicht die dialektische Entgegensetzung zwischen dem architektonischen Objekt und dem städtischen Raum. Die beiden sind in der gelebten Realität des Alltags derartig miteinander verwoben, dass es reine Theorie wäre, dies zu trennen.

    Dies habe natürlich auch mit der kulturellen Prägung der brasilianischen Gesellschaft zu tun, in der viel mehr im Außenraum gewohnt und gelebt wird als wir das hier in unseren Breiten tun, so Ruby. Natürlich spiele auch das wärmere Klima in Brasilien eine Rolle, aber es stecke letztlich ein ganz klarer politischer Wille dahinter: um diese Art von Realität erträglich und lebbar zu machen, brauche es großzügigen öffentlichen Raum – er werde zu einem Ausgleichsmedium, was in einer gewissen Form auch zivilen Frieden produziere.

    Gemäss dem Titel “Access for all” ist die Ausstellung im Architekturmuseum in Basel für jeden kostenlos zugänglich. Andreas Ruby will damit den Besuchern die Schwellenangst nehmen - vor allem solche Menschen sollen Zugang haben, die sich einen Museumsbesuch finanziell sonst nicht leisten könnten. Letztlich sei für ihn das Museum kein Ort der Bezahlkultur, sondern eine Bildungsinstitution. Und Bildung sei der geistige Sauerstoff unserer Gesellschaft, dafür sollte man nicht bezahlen müssen.

    Die Ausstellung ist noch bis 15. August 2021 in Basel zusehen. Weitere Informationen dazu unter: https://www.sam-basel.org/de/ausstellungen/aktuell