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Donnergrollen gegen himmelschreiende Ungerechtigkeit

Mit Bravour und großem Improvisationstalent hat das Theater der Hochschule die Premiere von „Kusslos“ gemeistert. Bei Blitz und Donner verlegte das Ensemble das Freiluftstück spontan in eine Tiefgarage. Tragik und Komik des Stücks tat dies keinen Abbruch.

Am Ende bleibt Verzweiflung. Mit einem markerschütternden Schrei verleiht Herr Orca seiner Qual Ausdruck. Jahrzehntelang wurde er wie seinesgleichen gedemütigt, ausgegrenzt und abgewertet. Und nun wurde ihm die Aussicht, endlich Rache üben zu können, auch noch genommen.
Dass die letzte Szene, der letzte Seufzer von „Kusslos“ inmitten von Betonwänden bedrückend hallt, war so nicht beabsichtigt. Und dass beim Verstummen von Herrn Orca zum Abschluss des Stücks zusätzliche Leuchten in der Tiefgarage wie von Geisterhand angingen, war wohl ein reiner Zufall – aber was für ein Effekt!

Mit tosendem Applaus, der ebenfalls gebührend durch die Betonwände verstärkt wurde, feierte das Premierenpublikum die enorme Leistung des Theater-Ensembles mit Leiterin Anna Hertz, das in den vorangegangenen Stunden sämtlichen Widrigkeiten getrotzt hat: Enormer Schwüle bei Aufbau und Spielbeginn, Premierenlampenfieber, Donnergrollen und Blitzen über der Bühne und schließlich dem spontanen Umzug vom idyllischen Rosengarten an der Musikschule Konstanz in die darunterliegende nüchterne Tiefgarage kurz nach der Pause.

Zwei Klassen-System im Inselstaat Atlantika

Der Flair von einem leichten Sommerabend begleitete noch die erste Hälfte des Stücks „Kusslos“: Auf Atlantika herrscht ein striktes Zwei-Klassen-System: Die „Geküssten“ sind die besseren Menschen. Sie sind unhinterfragt den „Ungeküssten“ überlegen, behandeln sie als minderwertige Menschen und treten sie mit Füßen. Am Beispiel des Kusslosen Herrn Orca (Hadi Ghorbanian, auf dem Foto oben links) wird die zerstörerische Wirkung der strukturellen Diskriminierung deutlich. Sein Hass auf die Geküssten ist so groß, dass er nicht einmal mehr wahrnimmt, wie er die Liebe seiner Tochter verliert, die – allen schlechten Erfahrungen der Kusslosen mit den Geküssten zum Trotz – erlebt, dass Liebe gesellschaftliche Gräben überwinden kann und mit dem „Geküssten“ Nautilus von ihrem Vater flüchtet. Stattdessen konzentriert sich Orca auf die Rache: Herrn Orcas Vater, einem Kusslosen, wurde einst von Herrn Störs Vater, einem Geküssten, alles weggenommen, nachdem dieser seine Schulden bei Herrn Stör nicht begleichen konnte. Nun tut sich die Chance für Orca auf, sich am Unternehmer Stör (Hani Asfoor, auf dem Foto oben rechts vorne) für das Leid, das seine Familie unter den Geküssten erleiden musste, zu rächen.

Erfrischende Komik auf Pazifika

Parallel zur himmelschreienden Ungerechtigkeit auf Atlantika sucht im friedlichen Pazifika die reizende Geküsste Delfin (Annika Klement) mit Unterstützung ihrer besten Freundin, der Kusslosen Flunder, und Gehilfin Qualle nach dem richtigen Mann. Verschiedene Kandidaten kommen, wetteifern um ihre Gunst und gehen. So ergreifend die Dramatik der Ausgrenzung auf Atlantika, so erfrischend ist die Komik auf Pazifika. Die Schauspieler*innen haben keine Scheu, in Haltung, Mimik und nicht zuletzt Kostümen sich selbst aufs Korn zu nehmen. Sie knacken damit zwar nicht das Herz ihrer Angebeteten, aber das des Publikums.

Genauso eroberten auch die Musiker*innen der Band „Algengrütze“ die Herzen der Zuschauer*innen: Auch sie – Kusslose und Geküsste, die darum ringen, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu trotzen - schafften glänzend den Spagat zwischen Komik und Tragik im Stück sowie die Kunst der Improvisation: Nach dem Umzug in die Tiefgarage zeigten sie, dass sie auch ohne Stromanschluss begeistern: Kurzerhand sprang das Publikum ein und unterstützte mit seinen Stimmen anstelle von Bass und Keyboard.


Da am Premierenabend der Umzug in das Gebäude der Musikschule nicht möglich war, verlagerte das Ensemble die Bühne wegen des Gewitters in die Tiefgarage.

Einladung zur Diskussion

Die Themen Ausgrenzung und Abwertung und ihre Folgen herauszuarbeiten war den Autor*innen Hani Asfoor, Annika Klement und Anna Hertz wichtig. Nach der letzten Vorstellung am Samstag, 25. Juni, lädt das Theater zur Diskussion über Themen des Stücks ein, Beginn zirka 22:30 Uhr. Zu Gast wird auch sein Robert Ogman, Politikwissenschaftler und Publizist und aktuell Fachbereichsleiter für Politik, Gesellschaft und Geschichte an der Volkshochschule Landkreis Konstanz.

Gedanken zum Stück und Diskussionsbeiträge können dem Theater-Team auch per E-Mail an theater@htwg-konstanz.de zugesandt werden.

Weitere Vorstellungen

Weitere Vorstellungstermine folgen am 23., 24. und 25. Juni. Alle Vorstellungen beginnen um 20 Uhr open air im Rosengarten im Hof der Musikschule Konstanz, Benediktinerplatz 6 (wettergerechte Kleidung empfiehlt sich, auch bei kleineren Schauern wird draußen gespielt, bei starkem Regen ist ein Umzug in die Musikschule möglich; diese war am Premierenabend belegt)
Restkarten können an der Abendkasse (9 € ermäßigt, 12 € normal) erworben werden. Ticketreservierung ist möglich unter theater@htwg-konstanz.de
Reservierte Tickets müssen am Veranstaltungstag bis 19:30 Uhr abgeholt werden, später gehen sie wieder in den freien Verkauf.
Vor dem Stück und in der Pause werden im Rosengarten gekühlte Getränke verkauft.


Das Ensemble, das "Kusslos" auf die Bühne bringt (v.l.): Marie Stemmler, Deborah Baum, Annika Klement, Johannes Wirbser, Enya Kao, Sebastian Manz, Klara Bechinger, Hadi Ghorbanian, Anja Zeilhofer,
Bianca Tsai, Sarah Jansky, Karl Höhne, Leo Albrecht, Xiaotong Ding, Dylan Fyson, Julian Ehrenstrasser, Hani Asfoor, Ardito Stichnote, Florian Djokaj, Dominik Müller und Darius Uhlmann.