Zurück zur Übersicht

Haus der 1000 Geschichten

18.12.2019

An der HTWG entsteht ein neues Gebäude. Es wird nur aus Material bestehen, das aus abgerissenen Gebäuden aus dem Landkreis Konstanz stammt. Es ist damit nicht nur nachhaltig, es könnte auch unzählige Geschichten erzählen.

Es ist ein Herzensprojekt von Prof. Dr. Thomas Stark. Seit vielen Jahren beschäftigt sich der Professor für energieeffizientes Bauen damit, wieviel Energie in einem Gebäude steckt. Ihm treibt die Frage um, wie Energie bei der Nutzung von Gebäuden gespart werden kann, aber auch: Wie schon der Bau ressourcensparend erfolgen kann. Nun kann er mit Projektleiterin Dr. Viola John und mit Kolleginnen und Kollegen aus der Architektur wie dem Bauingenieurwesen sowie rund 30 Studierenden das Projekt umsetzen: Das Team baut ein Gebäude, das nur aus Materialien bestehen wird, die schon einmal in einem Gebäude ihren Dienst erfüllt haben, aber wiederverwendbar sind. Und: Die Bauteile kommen nicht irgendwoher, sondern alle aus dem Landkreis Konstanz.

Qualität retten und Zukunft bauen

Jährlich werden im Landkreis Konstanz rund 300 Gebäude abgerissen und der Großteil des Bauschutts aus dem Landkreis rausgeschafft. Demgegenüber stehen rund 500 Neubauten, für die das meiste Material von irgendwoher in den Landkreis geholt wird. Das war vor 100 Jahren nicht so. Warum sich das so entwickelt hat, hatte sich Stark schon oft gefragt. Denn nicht jedes Bauteil aus Abbruchhäusern ist unbrauchbar. Fenster, Klinken, Fliesen, Treppengeländer, aber auch Stahlträger, Rohre, Backsteine und viel mehr könnten „gerettet“ werden. So können Transport- und Herstellungskosten und –energie eingespart werden.

Rohstoffwende als Pendant zur Energiewende

„Wir müssen umdenken und brauchen eine Rohstoffwende, als Pendant zur Energiewende“, forderte Prof. Stark bei der Kick-Off-Veranstaltung des Projekts, das den Namen RE-USE trägt. Schon beim Bau müsse die Weiternutzung des Gebäudes bzw. zumindest die Wiederverwertung der Rohstoffe mitgedacht werden. Die Dringlichkeit, sich damit zu beschäftigen, wird beim Blick auf Statistiken deutlich: „Das Bauen und Unterhalten von Gebäuden verursacht 40 Prozent der globalen CO₂ -Emissionen. Die Klimabilanz von Beton ist fatal, der Bauboom sorgt für einen gewaltigen Flächenfraß - allein in Deutschland werden pro Tag über 60 Hektar Boden versiegelt - und die Gebäude selbst führen nach ihrem Abbruch zu gewaltigen Müllbergen“, berichtete die Süddeutsche Zeitung am 1. Dezember 2019. Im Jahr 2018 wurden in Deutschland 52,7 Millionen Kubikmeter Transportbeton produziert. „Das ist ein Turm von 7380 Metern Höhe auf der Fläche eines Fußballfelds“, macht Stark anschaulich. Im Beton stecken Materialien, die immer seltener werden, zusätzlich ist seine Herstellung enorm energieintensiv. Demgegenüber steht die Menge Bauschutt: Rund 50 Prozent des globalen Abfallaufkommens stamme aus Abbruch. „Der weitaus größte Anteil der gesamten entstehenden Abfälle in Deutschland sind Bau- und Abbruchabfälle“, betont Stark. Bauschutt werde noch nicht als Wertstoff gesehen, dabei dränge sich eine sinnvolle Verwendung des Materials aus Rückbau auf. Wie das gehen kann, will das Team mit „RE-USE“ zeigen.

Die Idee hat überzeugt: Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) hat einen Förderantrag genehmigt. Jährlich wählt es zirka 40 Projekte aus rund 250 Anträgen aus – darunter nun auch RE-USE. Daniel Wöffen vom BBSR hebt gleich mehrere Punkte hervor, die für die Förderung gesprochen hätten: Die regionale Verortung im Landkreis Konstanz, um die Stoffströme kurz zu halten. Das konkrete Machen im Studium und die Umsetzung theoretischen Wissens. Und schließlich der Wissenstransfer: Die Erarbeitung eines Planungsleitfaden mit überregionaler Strahlkraft - also Forschung für die Praxis. Im Februar 2019 starteten bereits die Vorarbeiten für das Projekt, abgeschlossen soll es bis Dezember 2020 sein.

Forschungsfragen

Das Projektteam wird mit RE-USE verschiedene Fragestellungen berbeiten. Zum Beispiel:
•    Wirtschaftlichkeit: Wie können alle Projektbeteiligten finanziellen Nutzen haben? Lässt sich eine Bauteilbörse gewinnbringend aufbauen? Welche Rolle könnten Bauteilmakler spielen?
•    Rechtliche Fragen: Wer haftet ab wann für was?
•    Politik: Welche Rahmenbedingungen sind nötig, um die Nutzung von Bauteilen aus Abbruchgebäuden zu fördern?
•    Planung: Wie kann das ReUse-System in Planungsprozess integriert werden? Lässt man sich vom Material leiten? Oder sucht man gezielt nach Material?
•    Region: Welche Potentiale bietet der regionale Kontakt? Sind Kontakte in die Schweiz möglich?

Schon beim Entwurf umdenken

Für Architektinnen und Architekten ist die Bedingung, bereits bestehende Bauteile einzusetzen, eine Herausforderung. Sie sind gewohnt, Funktion und Form zusammenzubringen und dann das geeignete Material hierfür auszuwählen. Nun ist der Entwurfsprozess ein ganz anderer. Ungewöhnliche Aufforderungen bekamen die Studierenden bereits zu hören: „Ihr müsst lustiger denken“, rief ihnen Prof. Lydia Haack bei der Betrachtung der ersten Entwürfe zu. Die Frage ist nicht nur: Was wollen wir bauen? Sondern auch: Welche Bauteile stehen uns zur Verfügung?

Neubau auf dem Campus

Geplant ist ein ca. 100 Quadratmeter großer, eingeschossiger Bau, der für Ausstellungen und kleinere Veranstaltungen genutzt werden kann. Es gibt viele Fragen, die einerseits mit dem Entwurf geklärt werden müssen. Andererseits müssen die Antworten so flexibel sein, dass beim Fund neuer Bauteile Änderungen möglich sind. Trotz aller Flexibilität ist den Architekten wichtig: „Das soll nicht nach Patchwork aussehen, die Teile müssen zueinander passen“, fordert Prof. Stefan Krötsch. Und Prof. Haack ergänzt: „Wir retten Qualitäten, nicht Bauteile – und das soll auch sichtbar werden.“ Letzten Endes sollen die Betrachter des neuen Gebäudes den Aha-Effekt erleben: „Was? Das ist wirklich recycelt?“ Der Entwurf dient also ersteinmal als Schablone. „Wenn es dann anders wird, weil wir anderes finden, bleiben Änderungen unbenommen“, so Lydia Haack. Was für eine Herausforderung!

Ein Projekt voller Überraschungen

Unvorhersehbare Entwicklungen gehören bei diesem Projekt zum Alltag. „Es warten viele Überraschungen auf uns“, kündigte Prof. Thomas Stark schon bei der Kick-Off-Veranstaltung an. Schließlich betritt das Team auf verschiedenen Feldern quasi Neuland. Viele Fragen werden aufgeworfen, allen voran: Welche Bauteile können verwendet werden? Wie erfährt wer, welche Bauteile wann wo verfügbar sind? Fragen zur Statik können auch involvierte Bauingenieure wie Prof. Dr. Alexander Michalski, der zum Projekt eine Masterarbeit erarbeiten lässt, beantworten. Was aber ist mit Fragen zur Schadstoffbelastung? Das RE-USE-Team hat bereits in den vergangenen Monaten ein engmaschiges Netz im Landkreis geknüpft, um auch auf diese Fragen Antworten zu bekommen.

Verwendung von Rückbaumaterial nur, wenn es absolut unbedenklich ist

Das Projekt wird von Abrissunternehmen, Laboren, Ingenieurgesellschaften und auch von Seiten des Landratsamtes sehr befürwortet. Petra Reiner vom Amt für Abfallrecht und Gewerbeaufsicht ist mit der Überwachung von Abbruchmaßnahmen vertraut. Sie plädiert für eine Kreislaufwirtschaft und die Wiederverwertung von Material – Rohstoffe sind schließlich nicht unendlich verfügbar. „Doch dem sind Grenzen gesetzt“, warnte sie. Eine Wiederverwendung sei nur zu rechtfertigen, wenn mit absoluter Sicherheit krebserregende und andere gesundheitsschädigende Stoffe - Stichwort PCB, Holzschutzmittel, Asbest - ausgeschlossen werden können. Petra Reiner verbindet mit dem Projekt die Hoffnung, dass die Studierenden für ihr Berufsleben sensibilisiert werden, auch die mit Abbruchmaterial verbundenen Gefahren zu berücksichtigen und schon beim Planen von Neubauten den einstmaligen Rückbau zu bedenken.

Zahlreiche Kooperationspartner im Landkreis

Mehr als 20 Partner hat das Team bereits für das Projekt begeistern können. Unter anderem steht das Team mit Abbruchunternehmen in Kontakt, von denen es bei einem bevorstehenden Gebäudeabriss benachrichtigt wird. Achim Lehle, Abteilungsleiter Abfallwirtschaft / Fuhrwesen bei den Entsorgungsbetrieben Konstanz, freut sich, das Projekt unterstützen zu können. „Das ist schon etwas ganz Besonderes, ich bin begeistert davon“, sagt er. Die EBK unterstützen das Projekt ganz konkret, indem sie Platz zur Zwischenlagerung von Material bereitstellen. Thomas Veigel von HPC, einem Ingenieurbüro, das unter anderem Umweltberatung leistet und Schadstoffgutachten erstellt, sieht für alle Beteiligten große Chancen in der Zusammenarbeit. Und auch SGS Fresenius Institut in Radolfzell freut sich, dabei sein zu können. „Wenn wir hier zeigen, dass es geht, wird es geglaubt, dass es geht“, betont Nicole Conrad vom Verein Cradle to Cradle. Müll sei ein Designfehler, dem ein sinnvolles Management von Ressourcen gegenüberstehe. Melanie Pietz von der Konstanzer Wohnbaugesellschaft Wobak ist gespannt auf die Ergebnisse. Sie sieht im Projekt viel Potential und kann Erfahrungen aus der eigenen kleinen Bauteilbörse der Wobak beisteuern.

Reduce – Reuse – Recycle

„Reduce – Reuse – Recycle“ steht für eine Abfall-Vermeidungshierarchie und die Umwertung von Müll zu Wertstoff. An erster Stelle steht mit ‚Reduce‘ die Verringerung des Abfallvolumens: die Abfallvermeidung. Auf Gebäudeebene übertragen bedeutet dies eine Nutzungsänderung – beispielsweise von der Schule zu einem Bürogebäude. Danach folgt ‚Reuse‘: die möglichst direkte Weiterverwendung – bezogen auf die Architektur also die Weiterverwendung von Bauteilen. Erst an dritter Stelle kommt die materielle Umformung durch ‚Recycling‘ – bei Gebäuden beispielsweise von Glas, Beton oder Holz. Je geringer die Änderung des Ausgangsprodukts, desto besser ist also der Prozess.

Der Landkreis Konstanz – ein gigantisches Materiallager

Material ist reichlich vorhanden. Es muss nur gefunden werden. Ute Dechantsreiter kann davon ein Lied singen. Die Architektin hat die Bauteilbörse in Bremen und daraufhin das Bauteilnetz Deutschland mit aufgebaut. Es ist als dicker Online-Katalog vorstellbar - von A wie Armatur über Fenster, Heizkörper, Türen, Treppen bis Z wie Zäune. Die Architektin legte den Projektbeteiligten die Katalogisierung ihrer Fundstücke ans Herz – und zunächst die Suche nach Fundstücken. Ein Tag, an dem Sperrmüll gesammelt wird, ist für sie wie Weihnachten. Dann liegen Schätze im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße. Beim Urban Mining sammelt sie hier ein Waschbecken, dort einen Fensterrahmen, hier einen Lichtschalter, dort ein Paket Biberschwänze, erzählt sie mit leuchtenden Augen.

„Bei Ihnen wird das Goldfieber ausbrechen“

Auch die Projektbeteiligten werden bald nicht mehr ohne weiteres an verfallenden Gebäuden vorbeigehen können. „Sie werden zu Goldsuchern werden“, prophezeite Dechantsreiter bei einem Vortrag. „Ich laufe an keinem Container mehr vorbei, die Garage ist voll, der Keller voll“, erzählte sie lachend von ihren Eroberungen beim Materialscouting. Aus ihren Erfahrungen kündigte sie an: Die Projektbeteiligten werden wertgebende Eigenschaften erkennen und geeignete Einsatzort finden, „Sie werden das Material hochwertig einsetzen, nicht minderwertiger, Sie werden das spüren, eine andere Haltung entwickeln und Bewusstsein für Material entwickeln.“
Die Wertschätzung für das Material soll auch den Betrachtern des künftigen Gebäudes klarwerden. Jedes Bauteil soll mit einem QR-Code versehen werden, so dass Herkunft per Smartphone nachverfolgbar ist – und das Haus so 1000 Geschichten erzählen wird.

Das Forschungsprojekt

Projekttitel: RE-USE
Potenzial zur systematischen Wieder- und Weiterverwendung von Baukomponenten im regionalen Kontext und Realisierung eines Pilotprojektes
Forschungsnehmer: Prof. Dr. Thomas Stark, HTWG Konstanz, Fachgebiet Energieeffizientes Bauen,
Projektleiterin: Dr. Viola John
Projektlaufzeit: 24 Monate
Projektstart: Februar 2019

Studentisches Planungs- und Entwurfsteam Pilotprojekt «Haus der 1000 Geschichten»:
Studiengang Architektur: Carolin Baar, Rebecca Bader, Judith Blatte, Jana-Marie David, Felix Dold, Leonie Eggstein, Annali Geiger, Benedict Hofmann, Michelle Kaszas, Roman Kreuzer, Andreas Lorenz, Lisa Märkl, Isabel Ohorn, Nadina Omerasevic, Isabel Rau, Julia Schmid, Julia Schubert, Katja Siebler, Lukas Steigerwald, Katharina Straub, Calliope Trouillet, Franziska Wanka, Carla Weiland, Carolin Weinmann
Studiengang Bauingenieurwesen (betreut von Prof. Maike Sippel): Lara Apfelbaum, Marco Männle, Christian Lanthaler. Kevin Rosa, Amer Salcin
Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen Bau (betreut von Prof. Maike Sippel): Timo Bauer, Jennifer Krüger, Jonathan Löffler, Marcel Middendorf
Studiengang Elektrotechnik und Informationstechnik (betreut von Prof. Dr. Gunnar Schubert): Tarek Abou-Emara
Planungs- und Entwurfsbetreuung Pilotprojekt «Haus der 1000 Geschichten»:
Prof. Lydia Haack, Prof. Stefan Krötsch, Prof. Dr. Thomas Stark, Dr. Viola John
Corporate Design: Theresa Haugg

Weitere Informationen

auf der RE-USE-Projektwebsite: www.re-use-building.de

Instagram: re_use_building

Facebook: reusebuildingkonstanz

Das Forschungsprojekt RE-USE wird mit Mitteln der Forschungsinitiative Zukunft Bau des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung gefördert (Aktenzeichen: SWD-10.08.18.7-18.17).