Coronavirus: Wie kulturelle Werte den Umgang mit der Pandemie beeinflussen
14.07.2020
Das Krisenmanagement in der Corona-Pandemie und seine Akzeptanz unterscheidet sich in den Ländern weltweit. Interkulturalist Prof. Peter Franklin sieht darin einen Spiegel der unterschiedlichen Kulturen.
Prof. Peter Franklin war im März als Referent für einen Vortrag zu einer Konferenz in Frankreich eingeladen. Als die Corona-Krise sich verschärfte, wurde die Veranstaltung abgesagt. Prof. Franklin erhielt eine Ausladung. Das überraschte ihn nicht. Ungewöhnlich aber war für ihn die Begründung bzw. die Rechtfertigung: Man folge mit der Absage der Anweisung von Präsident Emmanuel Macron, alle Hochschulen zu schließen. „Als an der HTWG das Präsidium der Hochschule über die Maßnahmen in der Corona-Pandemie informierte, hat es natürlich kein einziges Mal auf Kanzlerin Angela Merkel Bezug genommen“, hält er dem entgegen. Anlass für den Wissenschaftler, die Maßnahmen verschiedener Länder in der Corona-Pandemie, ihre Kommunikation und Akzeptanz in der Bevölkerung zu beleuchten und Hintergründe zu erläutern.
Prof. Peter Franklin hat zu diesem Thema einen Artikel im Magazin Business-Spotlight veröffentlicht. Und er beantwortet weitere Fragen hier:
Stellen wir uns vor, Sie hätten für April eine Konferenz in Konstanz veranstaltet und hätten Ihren Kolleginnen und Kollegen in Deutschland die Absage-Mail versandt – mit Bezug auf eine Entscheidung von Kanzlerin Angela Merkel oder Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Weshalb wäre die Formulierung hier auf Verwunderung gestoßen?
Weil in Deutschland – in der Gesellschaft wie auch in vielen Organisationen, Unternehmen, Teams – Macht und Einfluss häufig nicht in den Händen von wenigen Leuten oder wenigen Instanzen ganz oben konzentriert bleiben, sondern nach unten weitergegeben werden. In diesem - politischen - Fall von Berlin in die Landeshauptstädte und dann auf der Grundlage einer dort verabschiedeten Corona-Verordnung weiter nach unten zur Ausführung.
Das sieht man an der sehr unterschiedlichen Handhabung der Lockerung des Lockdowns in den Bundesländern – es gab und es gibt immer noch keine einheitliche Vorgehensweise. Minister Spahn und die Bundeskanzlerin konnten in den ersten Wochen des Lockdowns versuchen, in ihren Beratungen mit den Ministerpräsidenten das Geschehen zu beeinflussen, aber eine - wie die E-Mail aus Frankreich vermuten lässt - persönliche Entscheidung à la Macron zu treffen, dass Hochschulen geschlossen werden sollen, wäre unmöglich gewesen, oder eine womöglich von einer anderen Instanz getroffene Entscheidung persönlich anzukündigen, unangemessen.
Die E-Mail vom 16. März, die die Schließung der HTWG angekündigt hat, kam vom Präsidenten der Hochschule und enthielt keinen Bezug auf eine Verordnung der Landesregierung, geschweige eine andere Person, lediglich auf den Corona-Krisenstab der HTWG – interessanterweise eine Gruppe von Menschen, keine Einzelperson. Durch die sog. Kulturhoheit der Länder sind Hochschulen Ländersache; sie agieren im Rahmen des Hochschulgesetzes relativ autonom, wie man hier im praxisbezogenen Vergleich mit Frankreich sieht.
Die Französinnen und Franzosen gelten in Deutschland als freiheitsliebende Menschen, die sich nicht scheuen, lautstark für ihre Rechte einzutreten. Wir haben Bilder von demonstrierenden Gewerkschaftsmitgliedern, Landwirten oder zuletzt die Gelbwesten vor Augen. Wie haben Sie sich die fast dem Staatsoberhaupt unterwürfig klingende Formulierung in der Mail erklärt?
Anders als in Deutschland, in den nordischen Ländern, den Niederlanden oder Großbritannien zum Beispiel wird in Frankreich eher oft erwartet und auch akzeptiert, dass Macht und Einfluss ungleichmäßig verteilt sind und oben in der hierarchischen Pyramide konzentriert bleiben. Das belegen zahlreiche ernst zu nehmende Studien zur sog. Machtdistanz auf der Welt, aber auch politische und wirtschaftliche Strukturen – z.B. das französische Staatsoberhaupt repräsentiert nicht nur, M. Macron besitzt anders als Herr Steinmeier ein sehr hohes Maß an politischer Macht; die Macht des Président-Directeur-Général eines französischen Unternehmens ist Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzender in einer Person.
Allerdings ist diese sehr deutliche Tendenz zur Konzentrierung der Macht in Frankreich nicht so stark ausgeprägt, dass von den weniger Mächtigen nicht versucht wird, Einfluss auf die Machtinhaber auszuüben. Anders als in Ländern mit extrem hoher Machtdistanz gibt es die Meinungsfreiheit in Frankreich. Mit ihren Protestaktionen beanspruchen für sich Minderheiten wie die gilets jaunes einen Teil des oben in der Hierarchie konzentrierten Einflusses.
Fazit: Angehörige jeder Kultur teilen im unterschiedlichen Maße die gemeinsamen Werte und Normen der eigenen Kultur – sind keine nach einer Gruppennorm generierten Klone. Wenn z.B. eine schweigende Mehrheit nicht mehr schweigt, kann sich eine Kultur neuen Gegebenheiten und Herausforderungen im sozialen Umfeld anpassen. Werte, Normen, Praktiken und Institutionen, die die Mitglieder der Kultur nicht mehr als nützlich oder wünschenswert erachten, weil sie der Komplexität des Lebens in der Gruppe nicht mehr gewachsen sind, ändern sich und werden ersetzt. So gesehen sind Kulturen keine statischen Gebilde, sondern lernfähige und damit auch lebensfähige Systeme.
Nochmal anders war die Pandemie-Politik in China. Hier wurden rigide Maßnahmen von Peking aus verkündet und vor Ort umgesetzt. Wie wird eine zentrale Entscheidung in unterschiedlichen Kulturen mitgetragen? Wer fühlt sich verantwortlich und sieht sich in der (Macht-)Position, Entscheidungen zu treffen? Und was ist nötig, damit eine getroffene Entscheidung von Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert wird?
Gesellschaften oder Kulturen oder Gruppen, die durch eine große Machtdistanz gekennzeichnet sind, fehlen häufig demokratische politische Strukturen, wie wir sie in Europa kennen. Beispiele sind Malaysia, Russland und eben China. Ein starker Mann – es handelt sich fast immer um einen Mann – führt eine mehr oder weniger kollektivistisch strukturierte Gesellschaft, in der die Gruppenmitglieder dem Mächtigen und der Gruppe insgesamt loyal sind – zum Beispiel durch gruppenkonformes Verhalten. Im Gegenzug erhalten die Gruppenmitglieder Schutz und Fürsorge vom starken Mann und von der Gruppe.
Aus Loyalitätsgründen wird die von Ihnen angesprochene Entscheidung zum Schutz der Gruppe von der Gruppe selbst mitgetragen. Das bedeutet, dass im Extremfall Gehorsam gegenüber Mächtigen selbstverständlich und im ureigenen Interesse ist. Denn Ungehorsam kann bestraft werden. Auch das hat man im sehr rigorosen Lockdown in China und aktuell bei der zweiten Welle in Beijing beobachten können.
Ganz anders verlief der Umgang mit der Pandemie in Ihrem Heimatland. Zunächst stand die individuelle Freiheit im Vordergrund. Erst nach einigen Wochen und der Erkrankung des Premierministers hat die britische Regierung eine politische Kehrtwende gemacht. Hätten die dann geforderten Verhaltensänderungen in der Bevölkerung die gleiche Unterstützung erfahren, wenn von der Regierung schon zu Beginn der Krise das Wohl der Allgemeinheit als Hauptargument kommuniziert worden wäre?
Ich denke nein. Ich glaube, die anfängliche Zurückhaltung der britischen Regierung, und insbesondere des Premierministers, sprach schon den sehr hohen Grad an Individualismus an, der in Großbritannien weitverbreitet ist und sehr tief sitzt. Er ist in mehreren empirischen Studien und zahlreichen qualitativen Beschreibungen der gegenwärtigen britischen Kultur belegt. Individuelle Freiheit ist demnach ein sehr, sehr hohes Gut. Der Staat (und vor allem eine konservative Regierung) darf die individuellen Freiheiten der Menschen nicht unnötigerweise beschneiden, meinen viele Briten. Das Individuum wird also oft höher geschätzt als die Gesellschaft.
Dass die ehemalige konservative Premierministerin Margaret Thatcher in einer bemerkenswerten und heute noch viel zitierten Rede sagte, “… there is no such thing as society. There are individual men and women and there are families”, ist der Ende des 20. Jahrhunderts populär gewordene Ausdruck eines Individualismus, der in der Philosophie dem britischen Empirismus früherer Jahrhunderte zugrunde liegt und der bei den Werken verschiedener britischen Denker und Philosophen wie Francis Bacon, David Hume, John Locke und Adam Smith einen Kerngedanken bildet.
Diesem tief sitzenden Individualismus ist in Großbritannien im Umgang mit der Pandemie Rechnung getragen worden und war auch auf jeden Fall zum Teil dadurch motiviert. Durch das – im europäischen Vergleich sehr späte - Ausrufen des Lockdowns durch die britische Regierung ist seinen Landsleuten, wie Johnson sagte, das „uralte, unabdingbare Recht der Briten, in die Kneipe zu gehen, beraubt worden“, erläutert Peter Franklin. Das zögerliche Handeln der britischen Regierung führte verständlicherweise zu sehr hohen Infektionsraten: Laut Statistik der Johns-Hopkins-Universität bzw. des Robert-Koch-Instituts von heute (1.7.20) hat Großbritannien bei weitem die meisten Covid-19 -Fälle in Europa. Es gibt je 100.000 Einwohner in Großbritannien 66 Tote, in Deutschland hingegen lediglich elf.
Zurück zu Deutschland: Kanzlerin Angela Merkel hat in der Corona-Pandemie zu einer sehr seltenen Maßnahme gegriffen: In einer Fernsehansprache hat sie bei den Bürgerinnen und Bürger um Verständnis für und die Einhaltung der Corona-Maßnahmen appelliert. Sie hat darin mehrfach die individuelle Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger betont, aber auch an die Solidarität appelliert, z.B. „Ich möchte Ihnen erklären, … , was die Bundesregierung und die staatlichen Ebenen tun, um alle in unserer Gemeinschaft zu schützen …. Aber ich möchte Ihnen auch vermitteln, warum es Sie dafür braucht, und was jeder und jede Einzelne dazu beitragen kann.“ Auf einer Skala von 1 bis 10: Wo stehen wir in Deutschland bei der Bedeutung von individueller Freiheit versus Allgemeinwohl? Und denken Sie, es hatte für die Bevölkerung eine besondere Wirkung, dass es die Person der Kanzlerin war, die an die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger appelliert hat?
Ich kann das genauer! Auf einer in der Forschung sehr bekannten Individualismus-Kollektivismus-Skala, die von 0 Punkten (extrem kollektivistisch) bis 100 Punkte (extrem individualistisch) erreicht Deutschland 67 Punkte – im unteren Teil des obersten Drittels. Das überrascht sehr viele Menschen in Deutschland, die in ihrer Heimat eine typische, individualistische, d.h. auf Selbstverwirklichung orientierte Konsumgesellschaft sehen. Aber es gibt eine Reihe von Faktoren, die den im Vergleich zu den USA und Großbritannien, die jeweils mit 91 bzw. 89 Punkten eingeschätzt werden, geringeren Individualismus belegen.
Die Bedeutung des Allgemeinwohls, der Gesellschaft insgesamt, sieht man am deutlichsten in Deutschland in der generellen Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft oder des rheinischen Kapitalismus als gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Leitbild, das vorsieht, dass die Gesellschaft insgesamt auch von der freien Initiative in der Wirtschaft mit profitieren sollte und nicht nur das Kapital. Speziell in den USA aber auch in Großbritannien ist der von Individualismus geprägte Shareholder-Kapitalismus im Vergleich mit Deutschland red in tooth and claw - das Allgemeinwohl wird eher nicht berücksichtigt. Weitere Indikatoren der Bedeutung der Allgemeinheit oder auf jeden Fall der Gruppe in Deutschland ist in der Rolle von gruppenorientierten Akteuren in Wirtschaft und Gesellschaft abzulesen – die Rolle des Betriebsrats, der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände, der Fachverbände, der Stiftungen, der Vereine – und im anfangs besprochenen Praxisbeispiel die Rolle des Krisenstabs der HTWG im Umgang mit der Pandemie an der Hochschule!
Prof. Peter Franklin
lehrt und forscht zu interkultureller Kommunikation und interkulturellem Management. Er hat in den zurückliegenden 30 Jahren zahlreiche Führungskräfte geschult, seit 1998 lehrt er an der HTWG, seit 2000 in den Asien-Studiengängen sowie in der wissenschaftlichen Weiterbildung. Er ist Mitglied im Konstanzer Institut für Corporate Governance. Prof. Franklin ist Co-Autor, mit Jeremy Comfort, von „The Mindful International Manager“ (Kogan Page), einem Praxis-Ratgeber für international tätige Menschen und mit Helen Spencer-Oatey von „Intercultural Interaction“ (Palgrave) und Co-Herausgeber, mit Christoph Barmeyer, von „Intercultural Management (Palgrave Macmillan), einer Sammlung von Fallstudien.
Unter anderem der deutsche Ethikrat hat die Krisenkommunikation der Bundesregierung kritisiert, indem er eine breiter aufgestellte Debatte über die Corona-Maßnahmen forderte. Eine solche Kritik einer öffentlichen Gruppierung am Regierungshandeln wäre in China beispielsweise undenkbar. Führen Sie dies auf die drohenden Sanktionen oder auf die kulturellen Werte zurück?
Auf beides. Kulturelle Werte beeinflussen unsere Handlungen, das Verhalten, die Praktiken, die Institutionen einer Gruppe, rechtfertigen sie. Wo die Machtdistanz besonders groß ist und wo die Rechtstaatlichkeit in unserem Verständnis fehlt, können die Sanktionen durchaus rigoros sein.
Dabei drängt sich die Frage nach Henne und Ei auf „Was war zuerst da: Kulturelle Werte oder das politische System?“ Was beeinflusst was stärker?
Die Institutionen und Praktiken einer Gesellschaft - hierzu gehört die Politik - sind auf jeden Fall zu einem sehr großen Teil von den geteilten Werten der Gesellschaft beeinflusst. Anders wäre sehr komisch und nicht nachhaltig. Ändern sich Werte aus welchen Gründen auch immer, dann passen sich Verhaltensweisen, Praktiken und Institutionen an, oft mit Mühe und Not und oft zeitlich verzögert. Aber Gesellschaften und Kulturen befinden sich grundsätzlich im Fluss, deren Werte auch.
Gibt es aus Ihrer Sicht Kommunikationsmaßnahmen/ein Verhalten in der Kommunikation, das kulturübergreifend funktioniert und allgemein akzeptiert wird? Eine Art Weltformel der Krisenkommunikation?
Ein Faktor ist meiner Meinung nach in der Krisenkommunikation von besonderer Bedeutung: Vertrauen. Was macht Vertrauen aus? Wie kommen wir zu dem Schluss, dass eine Person vertrauenswürdig ist? In westlichen Kulturen sind Kompetenz, Transparenz und Zuverlässigkeit oft ausschlaggebend. In anderen Teilen der Welt gilt Reziprozität als besonders wichtig. Aber bei allen Konzeptionen ist von überragender Bedeutung eine spürbare, wie auch immer geartete Integrität.
Und diese Reputation hat sich Frau Merkel als Politikerin über lange Jahre erarbeitet, und Boris Johnson eben nicht. Frau Merkel gilt über Parteigrenzen hinweg als vertrauenswürdig. Und genau diese Eigenschaft ist in ihrer Fernsehrede vermittelt worden. Die Rede war auch deshalb brilliant, weil diese Eigenschaften durch sehr sensibel zum Ausdruck gebrachte Emotionen begleitet wurden. Auch dank ihrer Reputation wirkte sie in der Rede authentisch auch im affektiven Bereich, integer und deshalb absolut vertrauenswürdig.
Das Kommunikationsmanagement von Boris Johnson war hingegen von Anfang an katastrophal schlecht (siehe z.B. in The Guardian vom 21. Juni 2020). Seine Unfähigkeit, die Details eines Sachverhalts zu beherrschen, schürte den Eindruck der fehlenden Kompetenz und Transparenz. Plötzliche Änderungen im Pandemie-Management ließen ihn auch noch als unzuverlässig erscheinen. Aber am wichtigsten ist, dass ihm die Reputation der Integrität fehlt. Als junger Journalist in Brüssel hat er sich einen Namen mit erfundenen Berichten z. B. über EU-genormten Särgen und dergleichen mehr gemacht; seine Brexit-Kampagne ist vielen Briten durch erfundene Statistiken über die Kosten der britischen EU-Mitgliedschaft in Erinnerung geblieben. Bei der Reputation, nicht integer zu sein, konnte seine Kommunikationspolitik nur scheitern.
Auch in autoritär geführten Gesellschaften, bei denen man meinen könnte, dass die Angst vor unangenehmen Konsequenzen bei der Ablehnung von zentral getroffenen Entscheidungen die Wirkung von Vertrauen ersetzen könnte, müssen die Angehörigen der Kultur dem starken Mann vertrauen und zutrauen können, dass er im Interesse der Gruppe handelt. Deshalb ist es der chinesischen Führung so wichtig, dass die zweite Welle, die vor der Hauptstadt und dem Zentrum der Macht Beijing gerade grassiert, möglichst schnell unter Kontrolle gebracht wird.