Architektur

    Bachelor und Master

    Dekoratives grafisches Element

    Desaster and Opportunity

    (06/21)  Was ursprünglich für das Sommersemester 2020 geplant war, wurde nun im digitalen Format durchgeführt: Prof. Friederike Kluge, die seit dem Wintersemester 19/20 im Fach Baukonstruktion und Entwerfen in den Studiengängen Architektur lehrt, hat vor einem großen interessierten Publikum eine beeindruckende Antritts-Vorlesung gehalten.

    Pro-Dekan Prof. Eberhard Schlag hieß sie zu Beginn noch einmal herzlich an der Fakultät Architektur und Gestaltung willkommen. „Wir freuen uns, dass Du bei uns bist und uns mit Deiner Lehre bereicherst.“


    Zu Beginn ihres Vortrags mit dem Titel: „Desaster and Opportunity (Die Neuerfindung der Moderne)“ gab Prof. Kluge einen Rückblick auf die vergangenen drei Semester ihrer Lehre. Gleich nach ihrer Berufung im Wintersemester 19/20 startete sie im ersten Semester mit dem Thema Massivbau – damals noch in Präsenz an der Hochschule. Dabei vermittelte sie den Neulingen unterschiedliche Werkzeuge, um Massivbau zu verstehen und mit Masse zu entwerfen. Wichtig war ihr dabei, dass die Studierenden ganz nah an der Materie begreifen, um Distanz abzubauen um so das Verstehen der Dinge zu fördern. Ihr Verständnis, wie Konstruktion im ersten Jahr des Architekturstudiums vermittelt werden kann, erklärte sie sehr anschaulich: „Ich möchte die Inhalte des Fachs so vermitteln, dass man Konstruktion anhand von konstruktionsbestimmenden Einflüssen lernt, dass man in verschiedenen aufeinanderfolgenden Übungen die zentralen Themen der Konstruktion seziert und isoliert betrachtet. Es geht um Kräfte oder Einflüsse, die auf eine Konstruktion einwirken wie z.B. Regen, Sonne, Wind, Statik, Temperatur, Bodenbeschaffenheit, Nutzer und Aufgabe. Auf all diese Einflüsse muss die Konstruktion reagieren.“


    Mit dem SoSe20 kam dann die Corona-Situation und das blitzschnelle Umstellen auf digitale Lehre. Nun musste alles neu gedacht werden und Prof. Kluge war gezwungen, ihre Lehre komplett innerhalb von einem Monat umzuschreiben. Die gesamte Corona-Problematik hat sie dann mit dem Semesterthema „Quarantänestudien“ aufgegriffen. Damit hat die junge Professorin aus dem Desaster eine Chance gemacht. Alles sollte von zu Hause aus funktionieren und die Erstsemester sollten auch aus einer Quarantäne heraus gut arbeiten können. Die eigene Wohnung wurde zum Objekt des Interesses und Haushaltsgegenstände zum Modellbaumaterial.

    „Eigentlich ist nichts vorhersehbar“ so Kluge, „deshalb müssen wir die Studierenden ausbilden, mit diesem Unvorhergesehenen umzugehen und Methoden zu entwickeln, darauf zu reagieren“.

    Die Entwicklung eines virtuellen Zeichensaals sieht sie rückblickend als Zugewinn zur herkömmlichen Lehre. Dort konnten sich Studierende auch außerhalb des Kurses online treffen und gemeinsam ihre Projekte auf Arbeitstischen entwickeln, wobei der Semesterablauf stets sichtbar blieb und am Ende in eine Onlineausstellung mündete. Besonders bei den Studienanfängern sieht sie bei sich nicht nur eine fachliche, sondern auch eine soziale Verantwortung, dass die Studierenden sich gegenseitig kennenlernen, auch in Zeiten von Corona. So entwickelten die Erstsemester zunächst einen Avatar – ein virtuelles Ich - um sich den anderen vorzustellen. Die eigene Wohnung wurde auf Licht- und Schattenspiele analysiert, aufgemessen und in Konstruktionszeichnungen dargestellt. Positiv - und Negativräume wurden mit Salzteig erstellt - ein Baumaterial, das auch während der Pandemie im Lebensmittelgeschäft zu erwerben war. Als Schalung dienten Heizungen, Türklinken oder Alltagsgegenstände. So entstanden Raumimprovisationen, immer begleitet von der Fragestellung: Wieviel Material verwenden wir beim Modellbau und können wir nicht viel reduzierter Material einsetzen oder wiederverwenden, in einer Zeit, in der der Zugriff auf Güter beschränkt ist?

    Im 2. Semester war es dann Aufgabe für die Studierenden, aus drei verschiedenen Inspirationen ein Gesamtes zu entwerfen, sich mit der Inspiration Material, Mensch und Ort auseinanderzusetzen. „Eine wichtige Kompetenz im Entwerfen ist, ganz unterschiedliche Themen miteinander zu verbinden“ erklärte Friederike Kluge. „Das, was am Anfang gegebenenfalls überhaupt nicht zusammenpasst, gegen alle Widrigkeiten zu einem guten, spannenden Konzept zu machen.“ Diese Themen könnten sich im besten Fall sogar unterstützen und stärken.

    Im zweiten Teil ihres Vortrags gab Prof. Friederike Kluge einen Einblick in Forschung und Lehre ihrer Wahlfächer.
    Mithilfe einer Karikatur zeigte sie anschaulich, wie klein ihrer Meinung nach die derzeitige Corona-Krise sei gegenüber dem großen Desaster, welches in Bezug auf den Klimawandel und die Biodiversitätskrise noch auf uns zukäme. Die ökologischen Belastungsgrenzen des Planeten seien bekanntlich weit überschritten. Durch unser System, welches auf stetigem Wachstum und somit auf Verschleiß aufbaue, machten wir diesen Planeten immer unbewohnbarer. „Dass es um unseren Planeten nicht so gut steht wissen wir schon lange“, so Kluge. „Meine Generation ist mit dem Umweltschutz und der Nachhaltigkeit groß geworden.“  Aber erst sehr spät sei ihr erst richtig bewusst geworden, welche immense Verantwortung wir als Architekten tragen und wie stark wir mit dem Bauen die Umwelt beeinflussen würden. Der Bausektor sei dabei der entscheidende Klimahebel. Ca. 40% des weltweiten CO2-Ausstosses entstünden im Bauwesen und die Bauwirtschaft sei in diesen Breiten für über 50% des Abfallaufkommens verantwortlich. Im Gegensatz dazu fehlten aufgrund der Verstädterung der Welt in den nächsten Jahren rund 1 Mrd. Wohnungen.

    Ein Zitat von Schellnhuber bewirkte in ihr ein Umdenken:
    „Die entscheidende Dekade ist 2020-2030: Dort muss der weltweite Ausstieg aus der Kohlestromversorgung passieren, dort muss der Verbrennungsmotor verschwinden, dort muss Zement als Baumaterial ersetzt werden, z.B. durch Holz und andere Baustoffe. Das ist die komplette Neuerfindung der Moderne.“

    Uns stünde also ein grundsätzlicher Wandel bevor. „Wenn die Wissenschaft uns also zuruft, dass wir etwas neu erfinden müssen, so etwas wie die Moderne, dann ist das doch eigentlich eine sehr schöne Aufgabe“, so Kluge. „Dies gibt uns Architekturschaffenden eine Bedeutung, die wir in den letzten Jahren vielleicht so gar nicht mehr gesehen haben.“  Aufgrund des Zitats von Schellnhuber seien ihr verschiedene Zweifel am Massivbau gekommen, beispielsweise sei die Herstellung von Beton für ca. 7% des weltweiten Ausstoßes von Treibhausgasen verantwortlich. Dagegen sehe man, dass Holz, Stroh oder Stampflehm sehr gut abschneiden - dass sie sogar CO2-neutral oder CO2-negativ sein können.  Deshalb habe sie sich bei Ihrem Antritt der Professur die etwas überspitzte Frage gestellt: „Wie lehrt man heute eigentlich Massivbau? Ist es nicht eher etwas für die Baugeschichte?“ Eine Antwort darauf hat sie für sich gefunden:  In der Lehre konzentriert sie sich auf die statische Definition des Massivbaus. Dabei ist es ihr wichtig, dass die Studierenden verstehen, wann sie wie welches Material einsetzen, wo beispielsweise Beton und Mauerwerk absolut Sinn machen oder wo Beton nur rein ästhetische Zwecke erfüllt und deshalb kritisch hinterfragt werden muss. So hat sie sich seither sehr aktiv mit dem Thema auseinandergesetzt, sich intensiv und schnell weitergebildet und begreift Nachhaltigkeit und Biodiversitätsverlust nicht nur als „add-on“, sondern als zentrale Aufgabe beim Entwerfen und Konstruieren, bei der sie Bilder der Architektur überdenken musste.
     

    Ihr Start in die Professur war eine große Suche: in Bezug auf das Zitat von Schellnhuber stellte sich für sie die Frage: Wie entwerfen wir die Zukunft, die ja schon in 10 Jahren fertig sein soll? Ein Workshop im Rahmen der Blockwoche unter dem Motto: „Das architektonische Detail in Zeiten der Klimakrise“ hatte das Ziel, ein Konzept zu entwickeln, wie man klimafreundlich baut und dieser Krise architektonisch begegnet. Auf einer Exkursion nach Basel besuchten die Studierenden verschiedenen Büros, um über diese Themen gemeinsam zu diskutieren.  Die Teilnehmer eigneten sich zielgerichtet Wissen an und vermittelten es wiederum den anderen Studierenden, eine Art Gruppenschnellrecherche.

    „Nach dem Workshop war klar, wir müssen weitermachen“, so Kluge. Gemeinsam mit den Basler Architekturschaffenden wurde ein Leitfaden in Form von Postkarten entwickelt, der es ermöglicht, sich in kürzester Zeit Wissen anzueignen. Dieser ist auf drei verschiedenen Maßstäben aufgebaut:

    1. Wie planen wir Städte?
    2. Wie bauen wir zukunftsfähige Gebäude?
    3. Wie konstruiere ich zukunftsfähige Details?

    So entstand die Gruppe „Countdown 2030“, die sich seitdem aktiv in der Architekturszene für ein Umdenken im Bauen einsetzt. Um an die ablaufenden 10 Jahre zu erinnern wurde eine Countdown-Uhr am 01.01.2020 am Schweizerischen Architekturmuseum und der Kunsthalle in Basel montiert, welche die Jahre bis 2030 rückwärts zählt.
    Ein weiterer Hebel sieht sie in der Reduzierung von Flächen: Wohnraum sollte so verdichtet werden, dass weniger Fläche pro Person genutzt wird. „Der Wohnraum muss sich mehr nach innen entwickeln, wenn der Platz im Außenbereich langsam zur Neige geht“, sagt sie und zeigt anhand von Möbel-Entwürfen, wie man im Innenraum Platz sparen kann. Eine Erkenntnis war, dass wir in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr so groß denken und bauen können, von einheitlichen Konzepten Abschied nehmen müssen und Fertigkeiten erlernen werden, kleine Eingriffe als kraftvolle Akkupunkturen umsetzen zu können. Sie hat sich für ihre zukünftige Lehre den Vorsatz gesetzt, wenn möglich weiterhin viel Umbauen zu unterrichten. Aus dem Bestand könne man sehr viel Inspiration ziehen und lernen, wie man Ideen weiterspinnen könne: Bestand verbessern, Qualität erhöhen, Identität schaffen, Brüche akzeptieren, auf Unvorhergesehenes eingehen, Toleranz entwickeln, bestehenden Raum zu Reparieren und die Schönheit von gebrauchten Dingen zu erkennen.

    Prof. Kluges Fazit zum Schluss ist eine Aufruf an uns alle: „Ich glaube, wenn unsere Gesellschaft es geschafft hat, innerhalb von einem Jahr eine Impfung gegen das Coronavirus auf den Weg zu bringen, können wir auch diese nächste Aufgabe bewältigen - in dem Moment wenn wir alle zusammenarbeiten, uns gegenseitig unterstützen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Wir müssen viel bewusster in die Zukunft schauen, die Welt ist im Wandel. Jetzt haben wir die Aufgabe, den Wandel aktiv mitzugestalten. Bauen heißt heutzutage mehr denn je Verantwortung zu übernehmen. Architekten und Architektinnen können hier etwas bewirken. Unsere Kreativität ist gefragt, es gehört zu unserem Beruf dazu, Dinge zu hinterfragen und diese in unübersichtlichen Sachverhältnissen zu ordnen und zu strukturieren und so Visionen zu entwickeln. Genau das, was wir heute in dieser unübersichtlichen Zeit brauchen.“

    Text: Cornelia Lurz