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Drei Forscher*innen der HTWG erkunden die Zukunftsstadt Auroville

Zwei Männer und eine Frau stehen vor einem Gebäude in Auroville

v.l.n.r.: Prof. Dr.-Ing. Michael Bühler, Prof. Dr. Tatjana Thimm, Prof. Dr. rer. nat. habil. Benno Rothstein in Auroville, Indien

Ein Modell für nachhaltiges Leben, Bauen und Tourismus in Indien

„Auroville gehört der Menschheit als Ganzes“ –  Mit dieser radikalen Vision wurde 1968 eine Stadt gegründet, die bis heute als weltweites Experiment für nachhaltiges Leben und Bauen gilt. Drei Wissenschaftler*innen der HTWG Konstanz haben sich auf den Weg gemacht, um herauszufinden, was wir aus Auroville für die Zukunft des Bauens, des Tourismus und der Stadtentwicklung lernen können. Eine Stadt ohne Geld, Politik und Privateigentum – was nach Utopie klingt, ist in Auroville gelebte Realität. Die 1968 von The Mother (Mirra Alfassa) gegründete Stadt in Tamil Nadu, Südindien, ist ein weltweit einzigartiges Experiment für nachhaltiges Leben, Bauen und gemeinschaftliche Selbstverwaltung. Rund 3.000 Menschen aus 60 Nationen verfolgen hier das Ziel, eine ressourcenschonende und solidarische Gesellschaft zu gestalten – unterstützt von der indischen Regierung und der UNESCO.

Drei Wissenschaftler*innen der HTWG Konstanz reisten nach Auroville, um zu erforschen, wie innovative Bauweisen, biogene Materialien und alternative Tourismuskonzepte in der Praxis umgesetzt werden. Sie untersuchten Low-Tech-Bautechniken, analysierten nachhaltige Baustoffe und beschäftigten sich mit der Frage, wie die Prinzipien Aurovilles auf europäische Städte übertragbar sind. Die Stadt basiert auf den gesellschaftlichen Ideen von Sri Aurobindo und wurde als Modell für eine gemeinschaftsorientierte, ressourcenschonende Lebensweise konzipiert. Heute dient Auroville als internationales Experimentierfeld für nachhaltige Architektur, soziale Innovation und ökologische Stadtentwicklung. Weitere Informationen finden sich unter www.auroville.org und in dieser Dokumentation.

Tourismus trifft auf nachhaltige Stadtentwicklung
Wie können Städte nachhaltigen Tourismus ermöglichen, ohne dabei die Lebensqualität der Einwohner*innen zu beeinträchtigen? Dieser Frage widmete sich Prof. Dr. Tatjana Thimm, die vor Ort Daten zum „Living Space Management“ erhob. „Auroville ist ein einzigartiges soziales Experiment, das zeigt, wie gemeinschaftliches Wohnen und Tourismus nachhaltig zusammengeführt werden können. Besonders spannend ist die Frage, inwiefern sich diese Modelle auf europäische Städte übertragen lassen, in denen der Massentourismus zunehmend Wohnraum verdrängt“, erklärt sie. 

Durch Interviews mit Bewohner*innen und Besucher*innen untersuchte sie, wie Tourismus in Auroville organisiert wird, um möglichst geringe ökologische und soziale Auswirkungen zu haben – ein Ansatz, der auch für europäische Städte mit starkem Besucherandrang wertvolle Impulse geben könnte. Darüber hinaus traf sich Prof. Dr. Tatjana Thimm mit Vertreter*innen des Department of Tourism Studies der Pondicherry University, um zukünftige Forschungskooperationen auszuloten.

Seegras als nachhaltiges Baumaterial
Die Nutzung nachwachsender Rohstoffe spielt eine zentrale Rolle für klimaresilientes Bauen. Prof. Dr. Benno Rothstein erforschte in Auroville den Einsatz von Seegras als natürliches Dämmmaterial. Dieses Material, das in Europa bereits historisch für den Hausbau genutzt wurde, könnte eine ökologische Alternative zu synthetischen Dämmstoffen sein.

„Seegras ist eines der wenigen Materialien, die ohne industrielle Weiterverarbeitung direkt als Baustoff genutzt werden können. Gerade in Zeiten steigender Rohstoffknappheit sollten wir verstärkt auf solche nachwachsenden Ressourcen setzen, die nicht nur umweltfreundlich, sondern auch hochfunktional sind“, erklärt Rothstein. Seine Untersuchungen legen nahe, dass Seegras durch seine hervorragende Feuchtigkeitsregulierung und Langlebigkeit insbesondere für Küstenregionen eine sinnvolle Alternative darstellen könnte.

Low-Tech-Bautechniken für eine nachhaltige Bauwirtschaft
Welche Baumethoden sind wirklich nachhaltig – und wie können sie weltweit angewendet werden? Prof. Dr. Michael Bühler untersuchte, wie Low-Tech-Baumethoden in Auroville ressourcenschonend und gemeinschaftsorientiert umgesetzt werden. Dabei betrachtete er insbesondere Lehm- und Erdbauweisen, die mit einfachen, lokal verfügbaren Materialien arbeiten. „In Auroville werden Gebäude mit minimalem ökologischen Fußabdruck errichtet – ohne komplexe Maschinen oder energieintensive Prozesse. Diese Kombination aus traditioneller Handwerkskunst und pragmatischem Materialeinsatz zeigt, wie ressourcenschonende Bauweisen umgesetzt werden können. Besonders wichtig ist für uns die Frage, wie diese Prinzipien in die Ausbildung integriert werden können, damit Studierende nicht nur theoretisches Wissen, sondern auch praxisnahe Erfahrungen mit nachhaltigen Baustoffen und Bauweisen sammeln“, betont Bühler.

Ein besonderer Fokus lag auf der Frage, wie Studierende aus Architektur und Bauingenieurwesen der HTWG Konstanz ihre Bachelor- oder Masterarbeiten sowie Praktika in Auroville realisieren könnten. Erste Kontakte für eine langfristige Zusammenarbeit mit dem Auroville Earth Institute wurden bereits geknüpft.

Aurovilles Vision: Eine Stadt für die Menschheit
Die spirituelle Vision Aurovilles, die auf den Ideen von Sri Aurobindo und „The Mother“ (Mirra Alfassa) basiert, war ein zentraler Bestandteil der Reflexionen der Wissenschaftler*innen. „Auroville gehört der Menschheit als Ganzes. Um in Auroville zu leben, muss man der dienenden Bewusstseinsveränderung gewidmet sein“, schrieb „The Mother“ einst als Leitgedanken für die Stadt. Diese Philosophie zeigt sich nicht nur in der einzigartigen Architektur, sondern auch in der gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung, einer Kreislaufwirtschaft und einem tief verwurzelten ökologischen Bewusstsein.

Von Forschung zu Anwendung: Die Zukunft der Zusammenarbeit
Die gewonnenen Erkenntnisse aus diesem Forschungsaufenthalt fließen nun direkt in aktuelle Projekte der HTWG ein. Geplant ist eine vertiefte Kooperation mit dem Auroville Earth Institute, um nachhaltige Baumaterialien und Low-Tech-Bautechniken weiter zu erforschen und praxisnahe Konzepte für klimaresilientes Bauen in die Lehre zu integrieren. Langfristig soll ein Austauschprogramm entstehen, das Studierenden, Forschenden und Handwerker*innen ermöglicht, an nachhaltigen Bauprojekten in Auroville mitzuwirken und gleichzeitig Ansätze aus Auroville in Europa zu erproben. Diese Zusammenarbeit könnte nicht nur neue Maßstäbe für nachhaltige Architektur setzen, sondern auch interdisziplinäres Lernen fördern – von der Theorie in die Praxis, von der Forschung in den Alltag.

 

Titelbild: Lalit Kishor Bhati