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Das schöne Spiel der Bauingenieure

03.07.2018

Dr. Roman Kemmler ist Professor für Technische Mechanik und Baustatik an der Fakultät für Bauingenieurwesen an der Hochschule Konstanz. Während seiner Berufstätigkeit in der Industrie war er Mitglied der erweiterten Geschäftsführung bei schlaich bergermann partner in Stuttgart, ein namhaftes Ingenieurbüro, das sich um spezielle Tragwerke insbesondere des Leichtbaus kümmert. Sein Hauptthemengebiet war der Stadienbau weltweit, insbesondere für die Fußballwelt- und Europameisterschaften.

Herr Kemmler, sind Sie Fußballfan?

Nein.

Muss man nicht eine Leidenschaft für Fußball haben, um gute Fußballstadien bauen zu können?

Überhaupt nicht. Das war immer auffällig: Wenn wir in die Stadien zum Eröffnungsspiel eingeladen wurden, haben wir immer nach oben geschaut in die Dachkonstruktion, die wir entwickelt haben und nicht nach unten auf den Rasen. (lacht) Nein, ich bin kein leidenschaftlicher Fußballfan. Ich schaue am Samstag nicht die Sportschau.

Was ist der Reiz am Stadionbau?

Ich bin ja konstruktiver Bauingenieur und die Stadien führen natürlich durch ihre Anforderungen an die Funktion zu großen Konstruktionen. Große Konstruktionen bedeuten immer große Spannweiten. Das Besondere am Stadionbau ist, dass wir keine Stützen sehen wollen. Das heißt, die Zuschauer sollen unter einem Dach sitzen, wo sie einen freien Blick haben. Es geht also um die Entwicklung von speziellen Tragstrukturen, die effizient, also mit möglichst geringem Materialaufwand, die Lasten abtragen können. Aus dem Anforderungsprofil, der Funktionsweise, entstehen interessante Bauaufgaben für einen konstruktiven Bauingenieur.

Sie haben gesagt, das Dach sei das Spektakulärste an einem Fußballstadion. Warum?

Wir haben im Bauwesen verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Das heißt, es gibt Bauaufgaben, da steht die Funktion im Vordergrund. Betrachten wir mal das A-Gebäude der HTWG, in dem wir uns gerade befinden, da ist es wichtig, dass man arbeiten kann, dass die Infrastruktur untergebracht werden kann. Bei einem Gebäude, das hohe Anforderungen an die Funktion stellt, tritt die Arbeit des konstruktiven Bauingenieurs in den Hintergrund und die Aufgabe des Architekten in den Vordergrund. Bei einer großen Überdachungskonstruktion aber ist die Funktionsbeschreibung ganz einfach: Bilde eine Fläche, durch die es nicht regnet. Mehr muss man nicht definieren. Das heißt, dort stehen automatisch die Aspekte des konstruktiven Bauingenieurwesens im Vordergrund, denn dort hat man es mit Großkonstruktionen zu tun, mit großen Kräften, großen Spannweiten. Da beginnt das schöne Spiel des konstruktiven Bauingenieurs und man kann sein Wissen sichtbar  und erlebbar machen. Natürlich braucht es Ingenieurverständnis, um das auch zu sehen. Aber für die Betrachter einer derartigen Konstruktion ist die Arbeit eines Bauingenieurs viel offensichtlicher zu erkennen als in einem klassischen Hochbau.

Und wie sieht das schöne Spiel des konstruktiven Bauingenieurs aus?

Mit Kräften spielen. Weil die Funktion einer Dachfläche so einfach ist, kann man mit den Geometrien der Tragwerkselemente so spielen, dass der Kraftfluss ideal wird und dadurch extrem leichte Strukturen herauskommen. Bei den formgefundenen Konstruktionen, das ist der Bereich, in dem ich zu Hause bin, spielen wir mit den Geometrien so lange, bis die Tragwerke leicht werden. Und möglichst wenig Material verbrauchen. Da sprechen wir teilweise von 20 Prozent weniger Materialverbrauch gegenüber konventionellen Konstruktionen. Bei vielen konventionellen Tragestrukturen im Bauwesen sieht man richtig, wie schwer diese sind. Durch das Spiel mit der Geometrie aber entstehen extrem filigrane Strukturen, bei denen man das Gefühl hat, die fliegen. Das Erlebnis der Schwerelosigkeit. Es sind einfach elegante Tragstrukturen mit schöner architektonischer Anmutung.

Vervollständigen Sie bitte den Satz: „Der Baustatiker verhält sich zum Architekten wie der Torwart zum...“

Den Baustatiker bitte streichen. Landläufig sagen zwar sehr viele „Baustatiker“ zu diesem Berufsbild – aber ich bezeichne das als Schimpfwort. Und das sage ich, obwohl die Baustatik der Bereich ist, den ich an der HTWG lehre. Aber sie ist nur ein Teilaspekt des konstruktiven Ingenieurbaus. Wir sind konstruktive Bauingenieure, Tragwerksplaner, das ist viel mehr als die reine Baustatik. Denn dazu gehört, mit Materialien umgehen zu können, mit Entwürfen umgehen zu können, durchaus auch mit Gestaltung umgehen zu können. Wir sind natürlich keine Architekten, aber auch wir fragen uns: „Welche Tragwerke haben eine gewisse Eleganz?“ Es gibt keinen Gegensatz zwischen der Architektur und dem konstruktiven Bauingenieurwesen, das ist ein Irrglaube. Sondern es soll eine Harmonie zwischen Bauingenieuren und Architekten geben.

Welches war Ihr Lieblingsprojekt und warum?

Ich würde fast sagen das schon erwähnte Moses-Mabhida-Stadion in Durban. Als noch recht junger Ingenieur war ich verantwortlich für den großen Bogen, der 370 Meter weit spannt und eine Höhe von 100 Metern über dem Grund hat. Das Schöne an den südafrikanischen Projekten war, dass wir uns ganz auf die ingenieurtechnischen Aufgaben fokussieren konnten. Und die Aufträge waren sehr umfangreich, das heißt, wir durften planen bis zur Montage, waren also selbst beim Aufbau der ganzen Konstruktion noch dabei. Aus Sicht des konstruktiven Bereichs habe ich alles mitbekommen bis zur Fertigstellung des Stadions. Und der Bogen selbst war natürlich eine extrem spektakuläre Konstruktion, wir hatten viele Fragestellungen zu bearbeiten, die für mich komplett neu waren. Beispielsweise den Bogen so stabil zu bauen, dass er bei allen Windverhältnissen während der Montage stehenbleibt. Das war ein Riesenaufwand: Die Rechnerei und die Versuche im Windkanal. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 2008 kam dann auch tatsächlich der Sturm. Und die Konstruktion hat den Sturm in einem sehr diffizilen Zustand, da war sie höchst ausgenutzt, überlebt. Sie müssen sich das vorstellen: Da hingen 2700 Tonnen Stahl in 100 Metern Höhe! Für solche Fragestellungen verantwortlich zu sein als junger Ingenieur, das war schon herausragend.

Waren Sie beim Bau der Stadien zur WM in Russland auch involviert?

Ja, bei den Entwürfen der Neubauten in Samara, Nischni Nowgorod und Wolgograd. Diese stammen von schlaich bergermann partner in Kombination mit dem Architekturbüro gmp und einem russischen Partner. Und für die VTB-Arena in Moskau, einer Multifunktionshalle und Heimstadion von Dynamo Moskau, war ich Projektleiter für die Dachkonstruktion über dem Fußballfeld. Auch das war wieder eine Neuerung: Ein sogenanntes Ringträgerdach, eine Konstruktion, die weltweit das erste Mal realisiert wurde. Das Projekt in der ursprünglichen Planung war zu teuer, wir haben es geschafft, durch eine Veränderung der Tragstruktur 50 Prozent der Stahltonnage rauszuholen, dadurch wurde es kostengünstiger und wir bekamen den Auftrag. Durch die Reduzierung der Stahltonnage wurde es natürlich auch optisch, von der Architektur viel leichter. Und schöner. Die VTB-Arena ist allerdings kein Austragungsort bei der Fußballweltmeisterschaft.

Ist das Bauen von Stadien zur Fußballweltmeisterschaft ein besonderes Geschäft?

Es gibt natürlich einen Fokus auf den Termin, diese Bauten sind extrem öffentlichkeitswirksam und medienrelevant. Die Eröffnungen selbst ein Riesenevent. Und wenn man in diesen Spezialprojekten zu Hause ist, sucht man die Öffentlichkeit, klar. Wir wollen damit auch die Ingenieurskunst weltweit hochhalten und sichtbar machen. Denn diese Fußballstadien sind Highlights im Städtebild, aber auch Highlights des konstruktiven Bauingenieurwesens, die eine weltweite Ausstrahlung haben. Das heißt aber auch, ein Stadion muss eine eindeutige Haptik haben. Wenn man das Bild im Fernsehen sieht, muss sofort erkennbar sein, welches Stadion das ist und wo es sich befindet. Deshalb ist die fünfte Fassade, also die Luftaufnahme von oben vor dem Spiel, extrem wichtig. Denn dieses Bild prägt sich bei den Menschen ein und sorgt für Wiedererkennungswert eines Stadions.

Haben Sie beim Bauen und Konstruieren der Stadien für die Weltmeisterschaften mehr Freiheiten oder Geld als sonst?

Nein, eigentlich nicht.

Welche Rolle hat dann der Architekt?

Die gestalterische. Es gibt ein schönes Beispiel: Der Stadionbau in Durban, Südafrika. Das Büro schlaich bergermann partner, für das ich damals gearbeitet habe, hat gemeinsam mit dem namhaften deutschen Architekturbüro gmp (Gerkan, Marg und Partner) für die WM in Südafrika drei Stadienprojekte realisiert. Auch das in Durban. Die Aufgabe, die uns die Bürgermeisterin damals gestellt hatte, hieß: „Put durban on the map“. Durban ist die Stadt mit dem größten Industriehafen auf dem afrikanischen Kontinent – und trotzdem kannte kaum jemand Durban. Sie wollten ein spektakuläres Stadion haben, mit dem sie während der Weltmeisterschaft in Südafrika Aufsehen erregen. Wir hatten damals eine Diskussion über die Auslegung der Abmessung von Bauteilen. Aus statischer Sicht hätten wir Bauingenieure den großen Bogen nicht in der Dimension gebraucht, da hätte ein dünner Strich genügt, aber es ist ein zentrales architektonisches Element, das muss eine gewisse Dimension haben, damit man es wahrnimmt. Die Architekten haben sich letzten Endes durchgesetzt und haben von uns größere Abmessungen verlangt, weil die Struktur im Gesamteindruck sonst nicht mehr in einem harmonischen Verhältnis gestanden hätte. Wir haben uns anfangs dagegen gewehrt, fanden es unnötig. Ich muss aber eingestehen, als wir am Ende vor dem fertigen Stadion standen, hat man gesehen: Die Architekten hatten recht. Das Besondere an dem Stadion ist ja, dass auf der Nordseite der Bogen beginnt, sich im Zenit in zwei Bögen aufteilt, damit im Süden, ausgerichtet gegen die Stadt das sogenannte Marathontor entstehen kann. Das Einladende, die Gestik, das ist Architektur. Mit dem Cablecar kann man dort hochfahren und von oben den Ausblick genießen in 100 Metern Höhe. Das ist schon beeindruckend. Das Projekt ist also den Ansprüchen seitens der Bauherren voll gerecht geworden.

Welche Fußballstadien haben Sie sonst noch persönlich mitgebaut?

Ich war bei schlaich bergermann und partner der Spezialist für die Formfindung, also die Geometrieentwicklung. In dieser Funktion war ich an circa zwanzig Stadien mitbeteiligt. Ich war zuständig für das Stadion in Leverkusen, die BayArena. Außerdem habe ich die Mercedes-Benz Arena in Stuttgart umgebaut, das war das erste, sogenannte Ringseildach, das weltweit umgebaut wurde, technisch extrem kompliziert. Ich war beteiligt bei allen polnischen und ukrainischen Stadien zur Fußballeuropameisterschaft 2012, habe das schlesische Nationalstadion bei Katowice realisiert und war stark involviert in den Bau des Nationalstadions in Warschau. Und ich war mit den Spezialfragen in den brasilianischen Projekten beteiligt. Zum Beispiel am Umbau vor der Fußballweltmeisterschaft 2014 des bekannten Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro – einst das größte Stadion der Welt.

Hat man als Bauingenieur eigentlich Bedenken, wenn ein Land kein Geld für Sozialausgaben hat, dann aber richtig viel Geld locker macht für Stadienbauten, die nach der WM gar nicht mehr voll genutzt werden?

Das führt natürlich immer wieder zu nachdenklichen Augenblicken. Wir haben uns öfter zusammengesetzt in größeren Kreisen und haben diese Themen diskutiert. Es ist ein gewisses Dilemma, ja. Aber schließlich ist es so, ob eine Fußballweltmeisterschaft in ein Land kommt, liegt nicht in der Entscheidung der Architekten und Bauingenieure, das ist eine politische Entscheidung. In Auftrag geben solche Projekte die Nationalregierungen oder die Städte.

Wie transportieren Sie Ihre Erfahrungen in die Lehre, wie profitieren die Studierenden davon?

In der Vorlesung „Symmetrie, Antimetrie“, ein Spezialthema in der Baustatik-Vorlesung, erkläre ich den Studierenden, wie effizient bestimmte Tragwerke Lasten abtragen. Die theoretisch- abstrakten bautechnischen Verfahren versuche ich immer anhand von konkreten Beispielen zu illustrieren. So große Tragwerke wie bei den Fußballstadien kann man im Rahmen dieser Vorlesung nicht analysieren, aber ich versuche zu zeigen, wo man bereits im Kleinen diese Effekte sieht. Ich möchte den Studierenden neben dem reinen Wissen, wie das Verfahren funktioniert, auch das Tragverhalten nahebringen. Da ist man dann von der reinen Baustatik-Vorlesung bei der Tragswerklehre, beim Tragswerksentwurf. An vielen Hochschulen hört die Lehre bei den Verfahren auf, dabei ist der konstruktive Bauingenieur ja beim Verstehen von Tragwerken zu Hause. Und ich versuche mein Wissen über die Tragsysteme mit in die Vorlesung einzubinden, damit die Studierenden verstehen, dass da noch viel mehr kommt, was den Beruf nachher spannend macht. Denn die ganze Rechnerei ist ja manchmal auch eine Quälerei. Aber klar, die Spezialtragwerke haben einen geringen Marktanteil, wir bilden unsere Studierenden für den Anwendungsfall aus und das sind nicht die Stadien. Das muss man klar sagen. Andererseits könnten wir in kleinen Projekten oft viel mehr machen, würden wir die Technik, schöne Tragwerke zu gestalten, verstärkt anwenden.

Interesse an einem Studium an der HTWG?

Das Studienangebot der Fakultät Bauingenieurwesen umfasst derzeit drei Bachelorstudiengänge und drei Masterstudiengänge, wovon zwei Masterstudiengänge fakultätsübergreifend angeboten werden. Weitere Infos.