Chaos im Stromnetz? Ein selbstlernender Algorithmus soll helfen.
08.11.2018
Ein Forschungsprojekt will zeigen, wie sich Niederspannungsnetze trotz dezentraler Einspeisung und Ladesäulen für Elektromobilität regulieren lassen können.
Die Zeiten, in denen allein große Kraftwerke zentral und berechenbar konstant Strom in die Stromnetze einspeisten, sind vorbei. Immer mehr kleine dezentrale Kraftwerke produzieren Energie, nach Jahres- und Tageszeit in unterschiedlichen Mengen – zum Beispiel die Photovoltaikanlage auf der Doppelhaushälfte in Dettingen wie auch das Windrad im Linzgau oder die Biogasanlage im Hegau. Dazu kommen neue elektrische Energieverbraucher beispielsweise durch den Ausbau von Ladesäulen für die Elektromobilität und Wärmepumpen. Die Dezentralität schafft eine erhebliche Komplexität: Die Klein- und Kleinstkraftwerke speisen Strom in das Nieder- und Mittelspannungsnetz fluktuierend ein – zeitlich variabel und ohne Konstanz. Elektroautos hingegen benötigen für eine schnelle Beladung eine hohe Ladeleistung – wann diese gebraucht wird, also wann geladen wird, ist derzeit unplanbar. Das stellt jeden Stromversorger vor Herausforderungen: Was kann er tun, um ein sicheres Netz zu gewährleisten? Er muss nicht nur kontinuierlich Energie vorhalten, sondern auch für eine gleichbleibende Spannung und Netzfrequenz sorgen – Angebot und Nachfrage müssen immer ausgeglichen sein. „Das ist alles noch sehr schwer machbar, die Verteilstationen im Niederspannungsnetz sind heute noch unintelligent. Zum Teil müssen manche Hebel noch mit der Hand umgelegt werden“, sagt Prof. Dr. Gunnar Schubert, Professor für Physik und Elektrotechnik an der Fakultät Elektrotechnik und Informationstechnik.
Eine Lösung wäre ein Netzausbau. Leichter und vor allem kostengünstiger wäre es doch, das vorhandene Netz intelligenter zu machen und besser zu nutzen, könnte man meinen. Heute stellt schon die Installation einer neuen Elektroautoladestation in einem Wohngebiet in der Fachsprache „eine Störung“ dar, auf die reagiert werden muss. Wie viel einfacher wäre es, wenn das Netz sich in Echtzeit selbst regulieren und spontan auf Einspeisungs- wie auch Verbrauchsschwankungen reagieren könnte? Wenn es also ein intelligentes Stromnetz wäre – ein Smart Grid? Wäre das überhaupt möglich? Und wäre eine permanente Optimierung denkbar? Genau daran arbeitet Prof. Schubert mit seinem Team. Die Wissenschaftler möchten zeigen, dass es möglich ist, einen Algorithmus zu entwickeln, der in Echtzeit auf die unzähligen sich ständig verändernden Variablen unter Berücksichtigung verschiedener Parameter optimal reagiert. Ja noch viel mehr: Vielleicht könnte er sogar selbstlernend sein, um auf neue hinzukommende Variablen schnell reagieren zu können. Parameter sind zum Beispiel Daten über die an das Netz angeschlossenen Verbraucher, die Belastung der Stromleitungen oder auch unterschiedliche Trafos. Sicher ist: Um die Stromversorgung der Zukunft unter den veränderten Voraussetzungen zu sichern, muss das Netz künftig stärker kommunikativ verknüpft und gesteuert werden. „Wir wollen einen Algorithmus entwickeln, der für jede Situation vorschlagen kann, wie man das Stromnetz optimal nutzen kann“, fasst Prof. Gunnar Schubert das Projekt zusammen. Er soll zum Beispiel erkennen, ob ein Netz ausgebaut, eine Trafostation aufgerüstet oder – im besten Fall – beispielsweise durch die Einbeziehung flexibler Betriebsmittel das Netz optimaler ausgenutzt werden kann.
Viele Forschungsprojekte beschäftigen sich mit den Hochspannungsnetzen und großen Stromtrassen und Fragestellungen wie: Wie kommt der von den Offshore-Windrädern von Norddeutschland in den industriereichen Süden? Wie können Lücken zwischen Produktion und Bedarf ausgeglichen werden? Wie elektrische Energie gespeichert werden? Doch durch die dezentralen kleinen Stromkraftwerke und die neuen Verbraucher wie E-Ladestationen und Wärmepumpen sind gerade auch die Mittel- und Niederspannungsnetze von der Energiewende betroffen. Insbesondere der Netzausbau auf Quartiersebene und dem dünner besiedelten Land steht durch die fluktuierende Einspeisung und den unregelmäßigen hohen Lastanforderungen vor Problemen. Kein Wunder, dass Prof. Schubert mit seinem Ansatz auf Interesse stieß: Sein Projekt „IT-Grid-Design – IT-basierte Netzausbauplanung im Verteilnetz für ein erneuerbares dezentrales Energiesystem“ wird vom baden-württembergischen Umweltministerium mit 300.000 Euro gefördert. Das International Solar Energy Research Center ISC Konstanz und das Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme ISE Freiburg bringen ihre Erfahrung in dem Bereich ein. Mit im Boot sind als Praxispartner das Stadtwerk am See und Siemens. Das Stadtwerk am See stellt verschiedene Netzstrukturen wie etwa das Quartier Fallenbrunnen Friedrichshafen als Beispiel zur Verfügung, die den Forschern realitätsnahe Bedingungen bieten. „Wir werden im Bereich E-Mobilität in den nächsten Jahren viel investieren“, so Mark Kreuscher, Leiter Netze beim Stadtwerk am See. „Das gemeinsame Projekt gibt uns die Chance, auf diesem Zukunftsfeld zu lernen und unser Angebot zu verbessern“, sagte er zum Auftakt. Den Anstoß zum Projekt setzte Prof. Schubert bereits, als er noch als Leiter des Studiengangs Energie- und Umwelttechnik an der Dualen Hochschule Ravensburg lehrte. Mit seinem Wechsel an die HTWG konnte auch das Projekt auf die andere Seeseite „umziehen“. Die Projektpartner bleiben dieselben.
Schubert sieht die Lösung in künstlichen neuronalen Netzwerken, die auch mit der großen Menge an Eingangsparametern umgehen können. Im Idealfall entwickeln sie sich selbstständig weiter. Dass dies möglich ist, zeige die automatisierte Bilderkennung, die anhand unzähliger kleiner Bildausschnitte auch über Defekte hinwegsehen kann und dennoch zum Erkennen in der Lage ist. Dazu sollte auch die dynamische Netzberechnung fähig sein. „Bisherige Netzberechnungsprogramme sind noch sehr statisch“, erläutert der Physiker. Klar, über viele Jahrzehnte bestand kein Bedarf an hoher Flexibilität.
Eine Aufgabe des Forschungsteams wird sein, neuronale Netze aufzustellen und zu trainieren, sie mit Störungen und Lösungen zu „füttern“, um ihre Fähigkeiten, selbstständig Lösungen zu finden auszubilden. Erste Versuche waren erfolgreich, Erzeuger und Verbraucher in einem kleinen Netz wurden bereits simuliert und optimierte Lösungen gefunden. Nun gilt es, den Algorithmus mit Hilfe der Daten der Projektpartner aus der Praxis stetig zu erweitern und zu verbessern.
Bildquelle Photovoltaikanlage: pixabay/torstensimon