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Studierende setzen Weltkulturerbe in Szene

18.12.2020

Suffizienz statt Lichtverschmutzung: St.Georg am Eingang der Insel Reichenau wird über Weihnachten in besonderer Weise beleuchtet.

Die Insel Reichenau ist für vieles bekannt: Ihr Gemüse, ihren Wein, den Fisch, den Inseldamm und seine Allee - und für ihre jahrhundertealte klösterliche Tradition. Im Jahr 2000 wurde die "Klosterinsel Reichenau" in die Weltkulturerbeliste der UNESCO aufgenommen.

Zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert sind die drei romanischen Kirchen erbaut worden, die noch heute das Bild der Insel prägen. Sie sind in diesem Winter in einem besonderen Licht zu bewundern, das gerade jetzt zu Weihnachten eine besinnliche Stimmung und einen Kontrast zu den oft knallig bunten oder grellen Weihnachtsbeleuchtungen schafft.

Studierende der HTWG haben in den vergangenen Jahren in Veranstaltungen unter der Leitung von Prof. Dr. Bernd Jödicke, Institut für Naturwissenschaften und Mathematik, hierfür den Grundstein gelegt. Der Masterkurs Lichttechnik im Wintersemester 2017/18 zum Beispiel hat ein Beleuchtungskonzept für die Insel Reichenau erarbeitet und seine Ideen in einer Broschüre veröffentlicht. Die Studierenden konnten auf die Untersuchungen aufbauen, die bereits zwei Masterkurse im Jahr 2016 durch grundlegende Befragungen zur Beleuchtung der Riesenbergkapelle in Konstanz erstellt hatten.

Suffizienz: So viel Licht wie nötig, so wenig wie möglich

Die Insel nicht in einem anderen Licht erstrahlen zu lassen, sondern mithilfe von Licht ihre Besonderheiten noch stärker hervorzuheben – das war das Ziel der Master-Studierenden der Architektur und des Wirtschaftsingenieurwesens Bauwesen. Oberstes Prinzip dabei war ein sehr sensibler Einsatz von Licht. „Suffizienz war uns besonders wichtig“, betont Prof. Dr. Jödicke. Im Gegensatz zur Effizienz beziehe Suffizienz den Menschen mit ein. Das heißt: „Mit wie wenig Licht erreicht man noch eine gute Wirkung?“

Sie wollten Licht „demütig“ einsetzen, schreiben die Studierenden in der Broschüre, in der sie ihr Projekt vorstellen. So sollen nicht nur die Attraktivität der Insel für Touristen noch deutlicher sichtbar, sondern auch die Bedürfnisse der Bewohner der Insel, von Menschen und Tieren, berücksichtigt werden.

Licht und seine Schattenseiten

Neueste Technologien verführen dazu, verschwenderisch mit Licht umzugehen: Mit gleichviel elektrischer Leistung (W), lässt sich immer mehr Lichtstrom (Lumen) erzeugen. Die im Vergleich zu früheren Glühbirnen höhere Effizienz moderner LED-Technik kann schnell dazu führen, dass die „Lichtverschmutzung“ steigt, schließlich lässt sich mit dem bisherigen Energiebudget viel mehr Licht erzeugen.

In einem technikorientierten Teil des Masterkurses haben sich Studierende aus der Elektrotechnik im Sommer 2018 mit der Frage beschäftigt, wie eine Leuchte mit wenig Licht, dafür aber mit einer extrem gerichteten Lichtwirkung, technisch umgesetzt werden kann. „Denn so eine Leuchte war auf dem Leuchtenmarkt nirgends verfügbar“, berichtet Prof. Jödicke.

Reichenauerinnen und Reichenauer waren am Drücker

An einem feuchtkalten Dezemberabend haben dann weitere Studierende 2018 die Reichenauer Bürgerinnen und Bürger zu ihren Eindrücken befragt, während sie am gotischen Chor des Münsters die gleiche Lichtinszenierung in neun verschiedenen Lichtstärken durchspielten. Die Lampenleistung variierte dabei zwischen 30 und 0,1 Watt.

50 Personen haben vom Klostergarten aus ihre Bewertung per Klicker in Noten von 1 bis 6 vergeben. Das Ergebnis: „Die Zufriedenheit war schon mit unglaublich wenig Licht recht groß, mit viel weniger Licht als wir erwartet hatten“, erinnert sich Prof. Jödicke.

Das kam dem Projektteam entgegen, schließlich ist die Lichtszenerie auch mit Maßgaben des Naturschutzes abzustimmen. Wie können Irritation für nachtaktive Tiere wie Fledermäuse und Insekten eingeschränkt oder im besten Fall vermieden werden? Dazu zitiert Jödicke die Aussage eines Natürschützers: „Wenn man vor einer angestrahlten Kirche steht und die Sterne am Himmel noch sehen kann.“

Minimalistisches Licht unterstreicht Mystik und Spiritualität der Insel

Genau das ist gerade jetzt möglich. Ab einer Stunde nach Sonnenuntergang bis 22 Uhr setzen moderne LED-Leuchten mit einem warmweißen Licht von 3000 Kelvin die drei romanischen Kirchen der Reichenau in Szene. Die gesamte Beleuchtung einer Kirche, mit allen acht bis zehn Leuchten, benötigt für eine Nacht (vier Stunden) so viel Energie wie ein Haarföhn während fünf Minuten.

Begonnen wurde Mitte November mit der Beleuchtung der Nordostseite des Münsters in Mittelzell. Danach folgte die Eingangssituation und südliche Fassade von St. Peter und Paul in Niederzell. Seit Mitte Dezember ist die südliche Fassade von St. Georg in Oberzell beleuchtet. Abgeschlossen wird die Aktion mit der Eingangsseite des Münster St. Maria und Markus in Mittelzell.

Dabei ist nicht die Beleuchtung der gesamten Kirche vorgesehen, sondern nur einzelne Elemente werden angeleuchtet. Ziel ist, die verschiedenen Charakteristika der Kirchen hervorzuheben wie zum Beispiel die beiden Seitenschiffe von St. Georg von außen, da sich auf deren Innenseiten die bemerkenswerten Wandmalereien befinden. So wird zudem der mystische und spirituelle Charakter der Insel Reichenau betont.

Nach der Präsentation der Ergebnisse 2019 im Gemeinderat war die Arbeit vom Lichtdesignbüro Stromlinie aus Konstanz fortgeführt worden, das weiterhin mit Prof. Jödicke im Austausch steht. Für die aktuelle Probebeleuchtung hat die Gemeinde Reichenau Prototypen von Brumberg-Leuchten angeschafft, außerdem unterstützt das Team des Bauhofs die Aktion.

„Die Installation der Leuchten erfolgte auf den Kirchen vorgelagerten, mobilen Befestigungselementen“, erläutert Prof. Jödicke. Wie gering die Lichtbelastung der Umgebung der Kirchen ist, zeigt die Skizze. Darauf sind die Sichtbarkeit (gelbe Linie) und die ungefähren Positionen der Leuchten (gelbe Punkte) angegeben. Die Leuchten sind auf die Fassade gerichtet. „Wegen der niedrigen Lichtmenge ist außerhalb der gelben Linie keine erhöhte Beleuchtungsstärke auf dem Boden messbar“, so Bernd Jödicke.

Messungen und Analysen

Bei ihren Tests haben die Studierenden übrigens auch Messungen der bestehenden Beleuchtung durchgeführt und dabei auch die Umgebungsbeleuchtung berücksichtigt. Dabei galt es zu unterscheiden zwischen Funktionslicht (wie Straßenlaternen), gestaltendem Licht (zur Hervorhebung von Sehenswürdigkeiten) und kommerziell werbendem Licht (wie leuchtende Plakatwände in Bushaltestellen). Die Studierenden haben Leuchtdichte und Beleuchtungsstärke gemessen. Die Leuchtdichte gibt an, wie viel Licht aus welcher Richtung von einer Fläche ausgesandt wird, während die Beleuchtungsstärke Auskunft darüber gibt, wie viel Licht auf eine Fläche gelangt.

Die Beleuchtung der Kirchen ist für die Studierenden ein erster Schritt zu einem inselweiten Konzept. Weitere Schwerpunkte sollen sein: Insel, Natur und Landwirtschaft, Architektur und Kultur sowie Mensch und Tradition. Unterschiedliche Anlässe könnten in unterschiedlichen Lichtevents aufgegriffen werden, wie zum Beispiel in Lichtparcours. Weitere Informationen in der Broschüre des Masterkurses.