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Vorausschauende Fahrassistenz

13.04.2022

Projekt mit Umsicht: Zwei Doktoranden der HTWG setzen Regelungstechnik ein, um Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Alter Einschränkungen in ihrer Mobilität erfahren, ein Stück Lebensqualität zurückzugeben.

Viele Menschen haben alters- oder krankheitsbedingt Schwierigkeiten, längere Strecken zu Fuß zurückzulegen. Mobilität ist jedoch von zentraler Bedeutung, um soziale Teilhabe zu ermöglichen. Für Mobilitätshilfen wie Rollstühle oder Elektromobile steht neben Ansprüchen an Robustheit, Dynamik und Komfort die Sicherheit der Fahrer*innen im komplexen Verkehrsumfeld an oberster Stelle. Hannes Homburger und Patrick Hoher arbeiten daran, diese Sicherheit zu erhöhen.

Die Mitarbeiter des Instituts für Systemdynamik (ISD) forschen betreut von Prof. Dr. Johannes Reuter für ihre Promotion an Technologien, die zum einen die Umwelt erfassen und Bewegungen anderer Verkehrsteilnehmer in Echtzeit vorhersehen können und die zum anderen einen zweirädrigen balancierenden Personentransporter auf die erfassten Umgebungsdaten adäquat reagieren lassen.

Kooperationspartner aus der Wirtschaft

„Das ist ein ganz großartiges Projekt, das die Lebensqualität vieler Menschen erhöhen kann“, sagt Armin Maurer. Er ist bei der Firma JOYY Mobility für Forschung und Entwicklung zuständig und bei der Recherche nach Arbeiten zu einachsigen, zweirädrigen Fahrzeugen auf die Webseite des Instituts gestoßen. Im Kontakt mit den Wissenschaftlern hat sich gezeigt, dass sich eine Zusammenarbeit für die Anwendung der Forschungsarbeit anbietet. Die Firma sieht sich an der Schnittstelle von Medizin und Fahrzeugbau und will insbesondere Menschen mit Gehbehinderungen unterstützen. JOYY Mobility fertigt Fahrzeuge, „die durch die Agilität des einachsigen Systems der Stigmatisierung, die oft mit einem klassischen Rollstuhl verbunden ist, vorbeugen“, erläutert Maurer. Da die Mobilitätseinschränkungen häufig mit verminderter Reaktionsfähigkeit verbunden ist, erwartet Maurer durch das Projekt mit dem ISD zur Fahrassistenz einen enormen Sicherheitsgewinn für die Fahrer*innen.

 

Vorhersage von Bewegungen in der Umgebung

„Wenn wir uns zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Auto fortbewegen, prüfen wir permanent unsere Umgebung“, sagt Hannes Homburger. Kommt ein Fahrrad auf dem Radweg oder ein Auto auf der Straße entgegen, ist meist keine Reaktion nötig. Läuft ein Kind einem Ball hinterher, kann es ratsam sein, abzubremsen. „Wir haben gelernt, das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer einzuschätzen, ohne uns im Alltag darüber große Gedanken zu machen“, erläutert Patrick Hoher. Das Ziel der jungen Wissenschaftler ist, dass auch ein Assistenzsystem für den balancierenden Personentransporter dies lernt und das Wissen autonom anwendet.

Grundlage sind die Daten, die eine Stereo-Kamera sammelt. Sie erfasst die Umgebung dreidimensional nahezu im 180-Grad-Winkel und detektiert Objekte wie Fußgänger*innen, Fahrräder oder Autos über künstliche neuronale Netze in Echtzeit. Patrick Hoher programmiert die Algorithmen, die diese Daten weiterverarbeiten. „Auf die detektierten Objekte werden modellbasierte Trackingverfahren angewendet, die einerseits Fehler des neuronalen Netzes korrigieren und andererseits abgeleitete Zustände wie Geschwindigkeit und Beschleunigung der Objekte bestimmen“, erläutert Hoher. Das System soll berechnen, wie sich die sich bewegenden Objekte voraussichtlich verhalten werden. Dabei könne angenommen werden, dass die Objekte sich entweder gemäß einem bestimmten Bewegungsmodell verhalten werden (z.B. dass sie sich geradeaus fortbewegen oder dass sie sich drehen) oder aber, dass diese Objekte selbst auf ihre Umwelt reagieren, um ihrerseits Kollisionen zu vermeiden.

#WeAreHTWG: Patrick Hoher

hat an der HTWG den Bachelor Elektrotechnik und Informationstechnik und den Master Elektrische Systeme abgeschlossen. Während seiner Anstellung am Institut für Systemdynamik ISD als wissenschaftlicher Mitarbeiter hat er während der Pandemie auch noch den Master International Project Engineering an der HTWG angehängt. Er promoviert in Kooperation mit der Uni Bonn.

Angemessene Reaktion auf die Umgebungssituation

Hannes Homburgers Aufgabe ist, zu erforschen, wie sich das einachsige Gefährt auf der Grundlage der berechneten Informationen verhalten sollte, um Hindernisse in der Umgebung zu umgehen. „Wenn wir in Konstanz über die Marktstätte gehen, treffen wir schließlich auch die Entscheidung, ob wir abbremsen oder ausweichen sollen und wenn ja, in welche Richtung“, erläutert Homburger.

Erfahrung aus Arbeit mit Forschungsboot Solgenia

Der Nachwuchswissenschaftler hat Erfahrung darin, Fahrzeugen ein gewünschtes Verhalten anzutrainieren. Er hat in seiner Masterarbeit dazu geforscht, wie das Forschungsboot der HTWG Solgenia autonom am Bootssteg andocken kann. Unter anderem wurde untersucht, wie sich künstliche Intelligenz dazu einsetzen lässt, das zukünftige Verhalten des Bootes vorherzusagen. Auf dieser Vorhersage aufbauend wird eine optimale Ansteuerung der Motoren ermöglicht.

In der Regelungstechnik spricht man hier von „modellprädiktiver Regelung“. Das Thema seiner Masterarbeit, für die er mit dem Hyperstone-Leistungspreis ausgezeichnet worden ist, lautete entsprechend: „Analyse, Entwicklung und Applikation informationstheoretischer modellprädiktiver Pfadintegral Regelungsalgorithmen für nichtlineare Systeme“. Durch dieses Vorgehen werde Energie und Zeit gespart und die Sicherheit von Personal und Boot erhöht, erläutert Homburger.

#WeAreHTWG: Hannes Homburger

hat an der Dualen Hochschule in Stuttgart Elektrotechnik studiert. Nach drei Jahren Berufserfahrung kam er zum Master Elektrische Systeme an die HTWG. Heute ist er beim Institut für Systemdynamik ISD angestellt und promoviert in Kooperation mit der Universität Freiburg.

MonoChair² ist Weiterentwicklung des MonoChairs

Um die Sicherheit geht es nun auch im aktuellen Projekt. Allerdings sind hier die Variablen etwas andere. Die Geschwindigkeit und die Bewegungsrichtung von anderen Schiffen sei durch ihre Trägheit etwas leichter vorherzusehen als das doch sehr zufällige Verhalten von Fußgängern. Darüber hinaus stellt das balancierende Zweirad erhöhte Anforderungen an die Stabilität. Die Grundlagen hierfür haben Vorgänger von Hannes Homburger und Patrick Hoher am ISD bereits gelegt. Denn das Projekt MonoChair² setzt auf ein früheres Projekt auf: Schon 2011 war der MonoChair von Studierenden zusammen mit Mitarbeitern des ISD entwickelt worden, ein einachsiger Doppelsitzer, der dank der Stabilitätsregelung wie ein Segway selbstständig ausbalanciert.

Diese Stabilitätsregelung macht den Einachser für JOYY Mobility so interessant. „Dies ermöglicht eine virtuose Flexibilität. Der Fahrer kann sich auf einem Punkt zum Beispiel in einem engen Aufzug flink drehen“, sagt Armin Maurer. Was für ihn fast noch wichtiger ist: Die Fahrt, die mittels des Oberkörpereinsatzes beschleunigt bzw. ausgebremst werden kann, trainiert die Muskulatur und fördert eine aufrechte Haltung.

Fragen werden im laufenden Projekt geklärt

Wie letztlich das Fahrzeug auf welche Umgebungsdaten reagieren wird, ist noch in der Diskussion. Eine plötzliche Bremsung oder eine drastische Wendung wird für die Fahrer*innen schließlich eher unbequem. Hannes Hoher hat jedoch bereits verschiedene Ideen. „Wir sind mittendrin in der Entwicklung und gehen viele Fragen im laufenden Projekt an“, sagt Armin Maurer. Er ist von der Unterstützung von Prof. Johannes Reuter begeistert und freut sich, dass die Promovierenden „Feuer und Flamme“ für das Projekt sind.

Der MonoChair² in Aktion bei der Langen Nacht der Wissenschaft

Am Samstag, 14. Mai, laden HTWG, Universität Konstanz, die Pädagogische Hochschule Thurgau (PHTG) sowie die Städte Konstanz und Kreuzlingen zur Langen Nacht der Wissenschaft ein. An vier Standorten (HTWG, Universität, Bodenseeforum und PHTG) können die Besucher*innen Forschung erleben – in Vorträgen, Mitmachaktionen, Führungen und Ausstellungen. Der Eintritt ist kostenfrei. Zwischen den Standorten pendelt ein kostenloser Shuttlebus.
Unter den rund 60 Programmpunkten auf dem Campus der HTWG wird sich auch der MonoChair² präsentieren. Hannes Homburger und Patrick Hoher werden ihre Forschung bei Fahrten über den Campus vorstellen. Weitere Informationen auf der Website der Langen Nacht der Wissenschaft Konstanz Kreuzlingen.

Faszination Regelungstechnik

Patrick Hoher und Hannes Homburger motiviert es, an einem Projekt zu forschen, das Nutzen für die direkte Anwendung bringt. Dabei faszinieren sie einerseits die Möglichkeiten wie auch die Vielseitigkeit der Regelungstechnik: Physik, Mathematik, Mechanik, Leistungselektronik, Informatik – die Interdisziplinarität mache die Arbeit im Projekt abwechslungsreich.
„Je tiefer man eintaucht und je besser man die Methoden beherrscht, desto schwierigere Probleme sind lösbar“, sagt Homburger. Dieses Wissen dann für die Erhöhung der Lebensqualität von Menschen einsetzen zu können, begeistert die Promovierenden. Genauso wie die Interaktion zwischen Mensch und Maschine: Zum einen, um Verhalten und Wissensverarbeitung von Menschen abzuschauen und auf die Maschine anzuwenden. Zum anderen aber auch die Herausforderung, Maschinen so zu gestalten, dass ihre Nutzung für Menschen intuitiv zu bewerkstelligen ist.

„Es ist ein großer Gewinn, dass wir hier auf dem Campus gleich verschiedene Versuchsträger haben – neben dem MonoChair² auch das Forschungsboot Solgenia. Diese helfen dabei, ein tieferes Verständnis für die verwendeten Algorithmen zu erlangen und einen wissenschaftlichen Mehrwert schöpfen zu können“, erläutert Homburger und fügt lachend hinzu: „In der Simulation klappt’s oft schnell, aber erst die Anwendung zeigt, ob es wirklich funktioniert.“
Weitere Informationen zum MonoChair² auf der Projektseite des Instituts für Systemdynamik