Architektur

    Bachelor und Master

    HABITAT – Pfahlbauten am Amazonas

    (09|24) Im August 2024 versammelte die internationale SummerSchool „flying classroom“ Architekturstudierende aus verschiedenen europäischen und lateinamerikanischen Partneruniversitäten sowie einem regionalen Verein in Brasilien. Gemeinsam sammelten sie Erfahrungen, lebten, reisten und arbeiteten im engen Austausch vor Ort. Ziel während dieser drei Wochen war es, ein Wissensinventar zum Thema Pfahlbau-Lebensräume im Spannungsfeld von Kultur, Architektur und Klima zu erstellen und sich so einer klimagerechten Architektur zu nähern. Die Extremwetterereignisse auch in unseren Breitengraden verlangen, Gewohntes zu hinterfragen und den Blick über kulturelle Grenzen hinweg zu öffnen. Ein besonderer Fokus lag auf den Pfahlbauten am Amazonas, deren nachhaltige Bauweise und enge Verbindung zur Natur neue Perspektiven für die Architektur der Zukunft bieten.

    5 Bausteine sind für die SummerSchool flying classroom zentral

    • Gemeinsames Reisen, um vor Ort und vom Ort zu lernen
    • Gemeinsames Leben und Arbeiten, um die Kultur des Anderen von innen kennenzulernen
    • Gemeinsames Sammeln von Erinnerungen, um durch die Augen des Anderen sehen zu lernen
    • Aufstellen eines Tisches, um als Gast zum Gastgeber zu werden und zu Green Table Talks einzuladen. 
    • Räumliche Interventionen, um das Erlebte in die Sprache der Architektur zu übersetzen

     

    Ein lebendiger Einstieg: Belém

    …deutsch Bethlehem, ist die Hauptstadt des Staates Pará, mit 1,4 Millionen Einwohnern, an der Baía de Guajará, der Mündung des Rio Guamá in den Rio Pará. Eine Hafenstadt im Amazonasdelta, die vom Fischfang und Handel geprägt ist.

    Es empfängt uns eine lebendige, kontrastreiche Stadt zwischen Altstadt, Hafen und den Quartieren mit Shoppingcentern und Hochhäusern. Die Altstadt, mit ihren maximal zweigeschossigen Häusern aus der Kolonialzeit, filigranen Balkonbrüstungen und gefliesten Fassaden, zeugt vom Leben Anfang des 19. Jahrhunderts – vernachlässigt und teilweise verfallen. Die mit Mangobäumen gesäumten Straßen der Innenstadt begründen den Beinamen „Cidade das Mangueiras“.  Die Vielfalt der amazonischen Fischarten und Früchte wird auf dem berühmten Ver-O Peso, dem Fisch- und Gemüsemarkt, erlebbar. Kräuterstände locken mit Naturheilmitteln für und gegen alles. Die ehemalige Hafenanlage „Estação das Docas“ mit ihren Restaurants, Marktständen und dem besten Eis der Stadt lässt eine Vorahnung entstehen, wie sich Belem 2025 für die COP30 verändern wird. 

    In Belem treffen sich die Studierenden aus São Paulo, Lyon und Konstanz. Sie stellen sich anhand von vier mitgebrachten persönlichen Karten vor: das Grün der heimischen Pflanzenwelt, die Brauntöne der Erde, das Blau des Himmels und der Farbe des Wassers. Das Thema der Postkarten begleitet die Gruppe weiterhin und in international gemischten Gruppen werden sie täglich das Wort des Tages sowie die Farbe des Tages wählen, so dass sich das Bekannte mit dem „Neuen“ und dem „Anderen“ überlagert. Der über die drei Wochen entstehende „flying carpet“ verändert sich täglich und wächst. In kleinen persönlichen Schritten nähern wir uns so der Region Amazonien zu nähern, die eigentlich in ihrem Maßstab kaum erfassbar ist.  

    Der Flug nach Macapá verschafft einen ersten kleinen Überblick, um mit den Dimensionen der Landschaft und der Dichte der Gefühle umzugehen. Die Untrennbarkeit von Kultur, Natur und Leben zeigt sich in den großen Linien und feinen Netz der serpentinenhaften Wasserläufen im unendlich erscheinenden Grün des Regenwaldes.

    Ein Fuß auf der Süd-, der andere auf der Nordhalbkugel: Macapá

    …liegt direkt auf dem Äquator und ist die Hauptstadt des Staates Amapá mit 350.000 Einwohnern. Die Stadt mit seinem rechtwinkligen Straßennetz bleibt meist ein- bis dreigeschossig mit nur wenigen hohen Häusern, dafür einer langen Uferpromenade entlang des Amazonas. 

    Das Denkmal Marco Zero do Equador verweist auf die Besonderheit der Lage von Macapá. Macapá liegt auf dem Äquator und das Monument lässt die Grenze zwischen der nördlichen und südlichen Hemisphäre greifbar werden. Im dahinterliegenden Fußballfeld stellt der Äquator gar die Mittellinie dar, sodass ein Tor auf der nördlichen und das andere auf der südlichen Halbkugel steht. 

    Ein sehr förmlicher, doch herzlicher Empfang an der UNIFAP, Universidade Federal do Amapá ermöglicht uns, die klimatisierten Arbeitsräume der Architekturfakultät zu nutzen.  Das Arbeiten im Freien ist kaum möglich, da selbst abends die Temperaturen auf der Dachterrasse des Hostels selten unter 27 Grad Celsius sinken.

    Die Gruppe ist durch das Dazustoßen der Studierenden aus Montevideo nun vollzählig, sodass sowohl die kulturellen Abende als auch die gemeinsame Projektarbeit beginnen kann. Die thematische Annäherung an das Thema Pfahlbau bilden zwei Exkursionen, zur Ilha de Santana und nach Afua, wo wir jeweils reine Pfahlbausiedlungen besuchen. Besonders beeindruckend in Afua ist, dass alles mit Fahrradwegen erschlossen ist. Sogar Lastentransporte, Feuerwehreinsätze und Krankentransporte finden per Rad statt.

    Architektur im Einklang mit der Natur: Dorf Vila dos Rodrigues

    … das Dorf der Familie Rodrigues lernen wir durch die familiären Beziehungen unserer Projektpartnerin der UNIFAP in Macapá Prof. Ana K. Rodrigues, kennen. Das Dorf besticht durch seine klare städtebauliche Siedlungsstruktur bestehend aus 9 Häusern, einer Kirche, einer kleinen Schule, einem Fußballplatz und seit September 2024 einer neuen großen Schule, die ein Schulangebot für ein größeres Einzugsgebiet bereitstellt. Fischfang, Holzgewinnung und die Ernte von Açaí sind die Haupteinnahmequellen für die Bewohner:innen aus vier verschiedenen Generationen.

    Das Dorf ist entlang eines parallel zum Fluss verlaufenden Steges, dem „ponte“, organisiert. Senkrecht dazu stehen zum und ins Wasser führende Stege, die „trapiche“, die direkt zu den kleinen Booten führen. Die Häuser mit Loggia und Veranda sind zum „ponte“ ausgerichtet. Dahinter reihen sich entlang eines Flures verschiedene Zimmer an. Quergestellt über die gesamte Hausbreite befindet sich die Küche, deren luftdurchlässige Bretterverschalung für einen dauerhaften Luftaustausch sorgt. 

    Durchlüftung und Verschattung sind wesentliche Kennzeichen der Architektur am Amazonas. Statt Fensterglas, lassen Fensterläden mit Lamellen Licht und Luft durch. Die Dächer sind weit auskragend, um die Fassaden nicht nur vor Regen, sondern auch vor der Sonne zu schützen. Loggien, bilden Schattenräume, um sich tagsüber und in den Dämmerstunden aufzuhalten. Die Fassaden und Innenräume sind oft farbig gestrichen und greifen zahlreiche Metaphern aus dem Schiffsbau auf.

    Die Pfahlbauten reagieren auf den Ort: „O rio commanda a vida“ („Der Fluss bestimmt das Leben“).

    Die familiären Beziehungen erlauben uns, den Alltag der Ribeirinhos, der Bewohner:innen des Amazonas, hautnah mitzuerleben. Zum Schlafen ziehen wir uns auf „unseren“ Amazonas-Dampfer zurück, der am Hauptsteg vor Anker liegt. 

    Die Nächte an Bord in der Hängematte, dicht an dicht und doch alleine, lassen nicht nur die atemberaubende Schönheit des Regenwaldes vom Wasser aus erkennen, sondern bedeuten auch eine Reise durch Zeit und Geschichte: eine komplett andere Welt, jedem fremd und unbekannt! Und doch eine Distanz, die gleichzeitig so viel Nähe schafft, dass das Erlebte uns so tief prägt, dass es dafür eigentlich keine Worte gibt.

    Pfahlbauhaus: Casa Ribeirinha

    Die zentrale Aufgabe des Programms ist der Entwurf einer casa ribeirinha culturas⁴ – eines Pfahlbauhauses, das das gemeinsame Wohnen von vier Personen aus verschiedenen Kulturen ermöglichen soll. Das eigene Erleben und die Reise von Belém auf die Ilha do Marajó hat alle Teilnehmenden sowohl für die klimatischen als auch gesellschaftlichen Bedingungen sensibilisiert. Wir fragen uns: Was bedeutet es körperlich, täglich Temperaturen über 30 Grad, gepaart mit extremer Luftfeuchtigkeit, zu erleben? Wie muss Architektur beschaffen sein, die im Rhythmus von sechs Stunden auf komplett unterschiedliche Wasserstände reagieren muss? Was zeichnet den Raum der Gemeinschaft und des individuellen Rückzugs aus – oder anders ausgedrückt: Wo findet Gemeinschaft statt und was ist die kleinste Einheit als Rückzugsbereich, die ich brauche? 

    In international gemischten Gruppen entwickeln die Studierenden fünf kleine Entwürfe eines Pfahlbauhauses. Als Buch zusammengestellt, dokumentieren die Projekte wie Kultur und Klima den Entwurf bestimmen und sich auf die Gestaltung auswirken.

     

    Präsentation der Entwürfe in Macapá und Exkursion in die moderne Architektur-Ikone Vila Serra do Navio

    Zurück in Macapá werden die Entwürfe an der UNIFAP ausgestellt und mit reger Teilnahme der Studierenden aus Macapá diskutiert. Es gilt das Bekannte mit den Augen der Anderen neu zu sehen, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren und Gewohntes zu hinterfragen. 

    Als Abschluss führt eine zweitägige Exkursion nach Vila Serra do Navio, einer kleinen Modellstadt, die nach der Entdeckung von Mangan-Vorkommen nach nordamerikanischem Standard 150 km nördlich von Macapá im Regenwald geplant und erbaut worden ist. Der brasilianische Architekt Oswaldo Bratke gewann den Wettbewerb, der zum Ziel hatte, ein unabhängiges und autarkes städtisches Zentrum zu schaffen. Heute gehört die Stadt zu den wieder entdeckten Ikonen der brasilianische Moderne. Konsequent hat Bratke die Anforderungen an die regionale Architektur, wie Schatten und Durchlüftung in die Sprache der Moderne übersetzt. 

    Nach dem Schließen der Mangan-Minen im Jahre 1997 leben nur noch knapp 5000 Menschen in diesen Häusern – einige gut erhalten und saniert, andere jedoch dem Verfall preisgegeben. Der Umgang mit diesem geschichtlichen Zeuge mit eingeschränkten finanziellen Mitteln bleibt den Architekturschulen Brasiliens aktuelles Thema und Aufgabe.

     

    Fortsetzung folgt

    Wir blicken auf eine Reise zurück, so dicht und bewegend, dass wir in der Blockwoche im November mit einer kleinen Gruppe wieder vor Ort sein werden, um das Dorf Vila dos Rodrigues zeichnerisch zu dokumentieren und Interviews mit den verschiedenen Generationen der Bewohner:innen zu führen. Die Geschichte geht weiter!

     

    Beteiligt waren

    • HTWG Konstanz: Prof. Myriam Gautschi und Studierende
    • ENSA Lyon: Prof. Julie Cattant und Studierende
    • FADU Montevideo: Prof. Lucia Ifran und Studierende
    • EdC São Paulo: Prof. Ciro Pirondi und Studierende
    • UNIFAP Macapá und Habitar Amazônia: Prof. Ana Karina Rodrigues und Anneli Celis

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    Das BWS plus-Projekt „HABITAT, Lebensräume im Spannungsfeld von Kultur : Architektur : Klima“ wird im Rahmen des Programms Baden-Württemberg-STIPENDIUM für Studierende von der Baden-Württemberg Stiftung gefördert.

    Text und Bilder: Prof. Myriam Gautschi in Zusammenarbeit mit Caroline Donner