Entwurf der klimaneutralen Stadt
30.06.2021
Auf 60 Hektar unbebautem Land wird der Konstanzer Stadtteil Hafner entstehen. Die HTWG bringt ihre Expertise für ein Muster-Quartier der Energiewende ein.
Städteplaner*innen und Architekt*innen muss es in den Fingern kribbeln: Wann hat man die Chance, auf 60 Hektar freiem Land eine „Zukunftsstadt“ komplett neu zu entwerfen? Auf der Grundlage neuester Forschungsergebnisse zu Klimaentwicklung, Kreislaufwirtschaft, Mobilität, Ressourceneffizienz, demographischer Entwicklung, Fragen des Zusammenlebens und noch vielem mehr einen Stadtteil mit Lebensqualität zu schaffen, ohne durch bereits bestehende Infrastruktur bei den Planungen eingeschränkt zu sein? Dr. Viola John ist die Begeisterung anzuhören, wenn sie von ihrem aktuellen Forschungsprojekt spricht. Die Architektin ist seitens der HTWG Projektverantwortliche im interdisziplinären Forschungsvorhaben „Hafner_KliEn“. „Hafner“ steht für das Gelände nordwestlich des Konstanzer Stadtteils Wollmatingen. „KliEn“ steht für „klimaneutral und energiewendedienlich“.
Wohn- und Lebensraum für 6000 Konstanzer*innen
Unter dem Titel „Heimat Hafner“ entwickelt die Stadt Konstanz einen neuen Stadtteil mit 3.200 Wohneinheiten, mit Dienstleistung und Gewerbe und einer neuen Mobilitätsinfrastruktur. Was nüchtern klingt, bedeutet konkret: Hier werden künftig bis zu 6.000 Konstanzer*innen leben. Es entstehen Kindertagesstätten, Schulen, ein Pflegeheim, Sportplätze, Kultureinrichtungen, Cafés und Restaurants, Lebensmittelgeschäfte und andere Läden. Auf 15 Hektar sollen 3500 Arbeitsplätze geschaffen werden. Dazu schreibt die Stadt auf ihrer Website: „Bei großen Stadterweiterungen, die einen erheblichen Eingriff in die Natur und Landschaft, aber auch in die Siedlungsstruktur bedeuten, ist eine möglichst nachhaltige und resiliente Entwicklung wichtig. Eines der Ziele, welches für das Projekt Hafner schon sehr früh definiert wurde, ist daher die möglichst klimaneutrale Entwicklung des Stadtteils.“ Input hierfür soll das Forschungsprojekt bieten.
Bundesministerium fördert Forschungsprojekt mit zwei Millionen Euro
„Erstmalig wird in dieser Größenordnung und der thematischen Breite die Machbarkeit eines klimaneutralen Quartiers aufgezeigt“, betont Prof. Dr. Thomas Stark, der an der HTWG energieeffizientes Bauen lehrt und bereits zahlreiche Forschungsprojekt dazu geleitet hat. Seine Mitarbeiter*innen arbeiten mit Projektpartner*innen der Stadt Konstanz, der Stadtwerke Konstanz, der Universität Konstanz und des Steinbeis-Innovationszentrum energieplus zusammen. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie über drei Jahre mit zwei Millionen Euro gefördert.
Arbeitsgruppe der HTWG betrachtet Ökobilanzierung und Freiraumgestaltung
Gerade jetzt einen neuen Stadtteil zu planen, biete unglaubliche Chancen, sagt Dr. Viola John. Lassen sich doch aktuellste Forschungsergebnisse umsetzen, um mit einer zukunftsweisenden Infrastruktur das Ziel, einen klimaneutralen und energiewendedienlichen Stadtteil, zu realisieren. Die Arbeitsgruppe der HTWG hat gleich mehrere Aufgaben und bearbeitet die Freiflächennutzung sowie das Thema „Ökobilanzierung“, also die Bilanzierung der Treibhausgasemissionen bedingt durch den Einsatz von nicht erneuerbarer Energie. Dabei betrachten die Forscher*innen nicht etwa nur den Energieeinsatz der künftigen Quartierbewohner*innen. Sie setzen sehr viel früher an und nehmen Gebäude und Infrastruktur über ihren gesamten Lebenszyklus in die Berechnung auf.
Zahlen und Daten zum Konstanzer Quartier "Hafner"
Städtebau
• Ca. 60 ha Siedlungsfläche
• Ca. 3.300 Wohneinheiten
• Ca. 15 ha Gewerbefläche
Freiraum
• Zentrales Freiraumband mit im Schnitt ca. 50 m Breite
• Ca. 13 ha öffentliche Wiesen- und Parkflächen
• Ca. 4 ha Sport- und Spielflächen
• Erhalt und Einbindung vieler Biotope und Landschaftselemente
Soziales
• 1 vierzügige weiterführende Schule mit 3-fach Sporthalle
• 1 zweizügige Grundschule mit 1-fach Sporthalle
• 1 Waldorfschule
• 5 Kindertagesstätten
• 2 Großsportfelder, 1 Kleinsportfeld
• Pflegeheim
• Quartierszentrum, Jugendzentrum, Stadtteilbibliothek
Mobilität
• Privilegierung des Umweltverbundes (Bus-, Rad-, Fußverkehr)
• 7 Mobilitätsstationen mit verschiedenen Mobilitätsangeboten
• Reduzierung der Stellplätze: ca. 0,7 Stpl./Wohneinheit
• vornehmlich Hochgaragen
• 3 Knotenpunkte für Bus- und Autoverkehr an der L221
Weitere Informationen auf den Seiten der HTWG und der Stadt Konstanz zum Hafner.
In der Gesamtbilanz schlagen bereits die verwendeten Baustoffe massiv zu Buche. Ein nach heutigem gesetzlichen energetischem Mindeststandard gebautes Gebäude verursacht über 50 Betriebsjahre nur noch etwa so viele Treibhausgasemissionen, wie bereits bei dessen Bau entstehen – vorausgesetzt, dass der Energiebedarf des Bauwerks anteilig über erneuerbare Energien gedeckt werden kann. Insofern sind Baustoffthematik und Energieverbrauch im Lebenszyklus als ähnlich relevant zu betrachten. Vergleichsweise viele Emissionen fallen beispielsweise bei der Nutzung von Stahl oder Beton an. Der Grund hierfür liegt im energieaufwendigen Herstellungsprozess und den dadurch verursachten Treibhausgasemissionen. „Daher kann es sinnvoll sein, die Anteile von Stahl und Beton im Neubau so weit wie möglich zu reduzieren“, empfiehlt Dr. Viola John. Dies kann zum Beispiel durch eine Reduktion der Keller- und Tiefgaragengeschosse und durch Holz- bzw. Holz-Hybridbauweise für die oberirdischen Geschosse erreicht werden.
Freiflächen können viel mehr als nur "schön" sein
Eine wichtige Rolle kommt bei der Energiewende auch den Dach- und Freiflächen zu, denn zumindest zum Teil können diese für die Energiegewinnung genutzt werden. Dabei komme es jedoch darauf an, diese Nutzung in Einklang mit anderen Zielen einer nachhaltigen Entwicklung in Einklang zu bringen, betont Sven Simon. Denn Dach- und Freiflächen können viele ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen. Freiflächen sollten und viele Dachflächen können so gestaltet werden, dass sie der Erholung dienen, zugleich aber auch die Biodiversität in der Stadt fördern. Beide Ziele stehen jedoch manchmal im Konflikt miteinander. Daher gehe es bei ihrer Gestaltung immer auch um Kompromisse: „Mancher erhofft sich eine kleine Arche Noah in der Stadt. Hier muss man aber genau hinschauen, was wirklich realistisch ist“, räumt der akademische Mitarbeiter ein. Schließlich wäre es problematisch, wenn die Probleme für den Artenschutz durch unnötigen Flächenverbrauch nur in andere Regionen verlagert und letztlich nicht gemindert würden.
Wie leben mit den Folgen des Klimawandels?
Worauf Simon einen vertieften Blick hat, ist eine oft noch unterschätzte Funktion von Freiflächen: Sie können den Stadtbewohner*innen helfen, sich an die Folgen das Klimawandels anzupassen. Heißere Sommer mit längeren Hitzephasen sind in der Stadt durch Verdichtung und Versiegelung viel stärker zu spüren als in einem Dorf. „Wände und Straßen heizen sich auf und geben - anders als Bäume und Grünflächen - auch nachts noch viel Wärme ab, die sie am Tag aufgenommen haben“, erläutert er.
Grundsätzlich möchte man heute aus vielerlei Gründen verdichtet bauen, doch kühlende Frischluft in die Siedlung zu bringen, ist bei einer verdichteten Bauweise schwieriger. Durch Begrünung von Dächern und Fassaden wie auch das Vorhalten von Grün- und Wasserflächen kann das urbane Klima aber auch bei einer höheren Dichte positiv beeinflusst werden. Begrünung steigert nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch die Erträge der Photovoltaik. Im Idealfall gelingt es somit, im Städtebau nicht nur geeignete Kompromisse zu finden, sondern auch Synergieeffekte zwischen Klimaanpassung, Klimaschutz, Erholung und Artenschutz zu ermöglichen. Immerhin gibt es bei diesen Themen reichlich Schnittmengen.
Enges Geflecht von Abhängigkeiten
„Das sind viele kleine Stellschrauben“, sagt Dr. Viola John beim Blick auf verschiedene Szenarien. „Es besteht ein enges Geflecht von Abhängigkeiten: Ändert sich im Quartier beispielsweise das Verhältnis von Bau- und Freiflächen, hat das nicht nur Auswirkungen auf die Gebäudeökobilanz, sondern beeinflusst auch die Bilanzen des Straßenbaus und der Mobilität – und umgekehrt.“, ergänzt sie. Umso wichtiger ist eine kontinuierliche Abstimmung mit den Projektpartner*innen. Die Stadtwerke Konstanz untersuchen vorwiegend Mobilitätsfragen wie die Nutzung alternativer Antriebsenergien im öffentlichen Nahverkehr, das Steinbeis-Innovationszentrum widmet sich der Energieversorgung beispielsweise durch Solarenergie und die Nutzung von Geothermie.
Viele Schnittpunkte mit früheren Forschungsprojekten
Das interdisziplinäre Forschungsprojekt hat zudem zahlreiche Schnittpunkte mit früheren bzw. laufenden Forschungsaktivitäten der Fakultät Architektur – zum Beispiel zu Infrarotheizung, der Wiederverwendung von Baumaterial ReUse oder zur fassadenintegrierten Photovoltaik. Eine besonders wichtige Schnittstelle ist vor allem das Projekt „Zukunftsstadt“ mit dem Quartier „Am Horn“, für das der Fachbereich im Auftrag der Stadt Konstanz die wesentlichen Grundlagen für nachhaltige Quartiersentwicklung erarbeitet hat. Die Erfahrungen dort sollen als Grundlage für das Quartier Heimat Hafner dienen.
Im Rahmen des Teilvorhabens „Soziologische Analyse klimaneutraler und nachhaltiger Stadtentwicklung“ widmet sich die Universität der soziologischen Begleitforschung des Gesamtvorhabens. Dabei geht es um Fragen der Nutzerzufriedenheit potenzieller Nutzergruppen mit Maßnahmen der Nutzerakzeptanz, mit interprofessionellen Kommunikationsprozessen sowie mit Methoden der Öffentlichkeitsarbeit und Bürgerbeteiligung beschäftigen.
Die Forscher*innen werden nicht ein finales Konzept für das Quartier vorlegen. Aber ihre Ergebnisse werden in politischen Gremien diskutiert werden, die dann den Bebauungsplan festlegen. Die Erschließung des Gebiets beginnt 2025. Das Quartier soll in rund 20 Jahren Bauzeit entstehen.