Ohne Flugzeug nach Finnland, Spanien und China
02.09.2019
Wie das Reisestipendium der HTWG dabei hilft, CO2 zu sparen und neue Welten zu entdecken.
Für die HTWG-Studierenden Ann-Kathrin Straßer, Florian Jungheim und Max Pabst spielt das Thema Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Ebenso das Reisen. Es lag für sie also auf der Hand, sich für das „mprove“-Reisestipendium zu bewerben. Das Projekt „mprove“ ist ein vom Land Baden-Württemberg gefördertes Forschungsprojekt der Fakultät Bauingenieurwesen, das an der HTWG die Mobilitätssituation auf nachhaltige Weise verbessern will. Und weil jeder Beitrag zu einer besseren Zukunft zählt, hat „mprove“ im Sommersemester Reisestipendien für einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt vergeben. Voraussetzung für den Erhalt des Stipendiums war, dass die Reise umweltbewusst und möglichst CO2-sparend verwirklicht wird. Das heißt konkret: Ohne das Flugzeug zu benutzen.
Für die Studierenden bedeutet das, mehr Zeit einzuplanen und die Komfortzone zu verlassen. Wer wie Ann-Kathrin Straßer nach Vaasa in Westfinnland reist, wo sie an der dortigen Universität ihr Erasmus-Studium antritt, muss zwei Länder durchfahren und hat knapp 2500 Kilometer vor sich. Schön, denkt sich nun so mancher, ist doch eine tolle Reise: Mit dem Nachtzug ist man in Nullkommanix in Kopenhagen, besucht dort die kleine Meerjungfrau und den Tivoli, dann noch einen Abstecher nach Stockholm, rauf auf die Fähre und schon ist man in Finnland. Das mag zwar ein wenig anstrengend sein, ist aber vorstellbar. Vaasa liegt schließlich nicht am Nordkap. Auch Florian Jungheims Weg durch die Schweiz, Italien und Frankreich bis ins spanische Sevilla, wo er für ein Semester studiert, ist mit etwas über 2000 Kilometern gut über die Schiene erschlossen. Und führt überdies durch landschaftlich reizvolles Gebiet. Gut, Sevilla liegt von Konstanz aus gesehen nicht gerade um die Ecke, die Reise ist aber mit einem Vorrat an Schweizer Schokolade und französischem Rotwein, Musik und einem guten Buch im Gepäck auch mit dem Zug durchaus machbar. Aber Peking?
In 34 Tagen nach Peking
Wer würde der Umwelt zuliebe schlappe 8000 Kilometer weit in den Osten Chinas reisen um dort für mehrere Monate an der Universität einen Sprachkurs zu absolvieren – ohne ein Flugticket in der Tasche? Muss man dafür nicht ein wenig verrückt sein oder sehr viel Zeit haben? „Also ich freu‘ mich extrem auf die Reise“, lacht Max Pabst. Er studiert im siebten Semester Wirtschaftsingenieurwesen Maschinenbau an der Hochschule Konstanz. Seine Reisepläne klingen nach einem großen Abenteuer, ja beinahe nach einem eigenen Studienprojekt: Von Konstanz geht es mit dem Zug nach Berlin zu den Eltern mit dem Klapprad im Gepäck. Das nutzt er, um die Ostseeküste entlang bis nach Swinemünde zu radeln – mit einem Zwischenstopp bei den Großeltern in Rostock. Der Nachtzug bringt ihn über Warschau nach Kiew. Nach einem zweitägigen Aufenthalt führt ihn seine Reise dann mit dem Bus nach Moskau. In der russischen Hauptstadt macht er ein paar Tage Urlaub, reist dann mit der Transsibirischen Eisenbahn an den Baikalsee, wo wieder ein kurzer Aufenthalt geplant ist. Mit dem Zug wird die Reise fortgesetzt in die Mongolei, nach Ulan Bator. Auch hier bleibt er ein paar Tage, bevor er dann mit dem Zug an die chinesische Grenze und mit dem Nachtzug nach Peking reist. Max Pabst hat für seine Reise ein besonderes Vorhaben: Er will ein CO2-Tagebuch führen, in das er beispielsweise einträgt, wie die Züge ausgelastet sind. „Ich möchte festhalten, wie die CO2-Bilanz meiner Reise ausfällt“, sagt er.
Etwas mehr als einen Monat hat Max Pabst für die Reise eingeplant. Warum hat er sich für diese Reisevariante entschieden? „Mich interessiert, wie sich Kultur und Mentalität im Verlauf der Reise allmählich verändern. Wenn man einfach in Deutschland in ein Flugzeug einsteigt und in China wieder aussteigt, erlebt man das nicht.“ Der Reisekostenzuschuss in Höhe von bis zu 500 Euro war für ihn der Grund, die Reise tatsächlich so durchzuführen. Mit der Idee habe er gedanklich schon länger gespielt, erzählt er. „Aber dass ich das Reisestipendium bekommen habe, war schon der ausschlaggebende Punkt, sonst hätte ich es mir gar nicht leisten können.“ Das Reisestipendium der HTWG trägt hier also substantiell zu mehr Klimaschutz bei, denn ein Direktflug von Frankfurt nach Peking mit über neun Stunden schlägt mit einem CO2-Ausstoß von über zwei Tonnen zu Buche. Zum Vergleich: Dies ist in etwa der CO2-Betrag, den das Umweltbundesamt pro Jahr und Bundesbürger als gerade noch klimaverträglich ansieht.
Bewusstseinswandel - nicht nur bei den Studierenden
Dass sich in der jüngeren Generation ein Bewusstseinswandel hin zu einem nachhaltigeren Lebensstil vollzieht, ist im Gespräch mit den Studierenden deutlich zu merken. Und das nicht erst seit Greta Thunberg auf der Bildfläche erschienen ist. „Der Greta-Effekt? Nein, definitiv nicht. Nachhaltigkeit hat für mich schon eine wichtige Rolle gespielt, bevor sie angefangen hat zu streiken“, erklärt Ann-Kathrin Straßer, die im vierten Semester Umwelttechnik- und Ressourcenmanagement studiert. An der Universität Vaasa will sie während ihres Erasmus-Aufenthalts neben einem Finnisch-Kurs Seminare zu Energieerzeugung und Erneuerbaren Energien besuchen. „Ich weiß nicht genau, wann das angefangen hat, aber ich richte mein ganzes Leben nach dem Nachhaltigkeitsaspekt aus: Ich studiere das, ich lebe vegan, ich fahre kaum mit dem Auto und wenn, dann mache ich Carsharing. Ein Stück weit habe ich das von meiner Familie mitbekommen. Und jetzt habe ich sogar einen Vorteil davon, dass ich bin, wie ich bin: Mit dem Reisestipendium spare ich bares Geld. Und wer weiß: Vielleicht treffe ich Greta ja zufällig, wenn ich in Skandinavien mit dem Zug unterwegs bin!“
Fliegen mag die Studentin nicht, das Zugfahren hingegen hat für sie eine besondere Bedeutung. „Bei mir hat viel im Zug angefangen, z.B. als ich mein Studium in Konstanz angefangen habe. Ich bin immer alleine gestartet und es ist immer etwas Gutes dabei herumgekommen. Wenn ich im Zug sitze, bedeutet das, ein Stück weit wieder mein eigenes Ding zu machen. Darauf freue ich mich“, sagt sie.
Auch Florian Jungheim hat seinen Lebensstil geändert. Er lebe weitgehend plastikfrei, esse nur noch selten Fleisch und nutze das Auto, das er sich mit seiner Freundin teilt, kaum noch. Jungheim hat einen Bachelorabschluss in Umwelttechnik und Ressourcenmanagement und macht nun seinen Master in International Project Engineering. Im vergangenen Sommersemester war er für Dr. Maike Sippel, HTWG-Professorin für Klimapolitik, Nachhaltige Entwicklung und Global Governance, als studentische Hilfskraft tätig. Er arbeitete in einem Projekt, bei dem es darum geht, unter Schülerinnen und Schülern ein Bewusstsein für die Ressourcenproblematik zu schaffen und sie mittels einer „Climate Challenge“ dazu anzuregen, selbst klimafreundlicher zu leben.
Paradoxerweise war es gerade das Reisen, das ihn zum Umdenken bewegte. Nach seinem ersten Semester war er als Backpacker auf Bali unterwegs und lernte dort das Tauchen. „Das war so ein einprägsames Erlebnis“, erzählt er. „Es hat mich geprägt, unter welchen Bedingungen die Leute dort leben müssen, wie verschmutzt die Meere sind.“ Für seinen Auslandsaufenthalt hat er nun vorerst sogar einen Traum begraben. „Ich wollte immer mal längere Zeit in Chile oder Argentinien verbringen. Aber ich habe mir meinen CO2-Fußabdruck ausgerechnet und festgestellt: Das muss ich herunterfahren. Deshalb auch die bewusste Entscheidung, Erasmus in Europa zu machen und nicht nach Südamerika zu gehen. Das Feedback meiner Freunde war: Bist du bescheuert? Das würde ich niemals machen, mich deshalb einschränken.“
Reisen und Nachhaltigkeit – ein Widerspruch?
Weltoffen und neugierig auf fremde Länder und Kulturen sind alle HTWG-Reisestipendiatinnen und -stipendiaten: Sie werden versuchen, die Sprache ihres Gastlandes zu erlernen, wollen vertraut werden mit der neuen Umgebung, neue Bekanntschaften schließen und im Anschluss an ihren Aufenthalt noch ein wenig im Land herumreisen. Max Pabst freut sich schon jetzt auf die Ausflüge zur chinesischen Mauer, in die verbotene Stadt und das Mausoleum Qin Shihuangdis.
So aber bleibt das Dilemma zwischen einer nachhaltigen Lebensweise und der Reiselust bestehen. „Reisen ist nun mal eine große Leidenschaft von mir. Der Konflikt zerreißt mich schon ein bisschen: Mache ich mir Möglichkeiten kaputt, wenn ich nicht auf Reisen gehe und nur in Europa bleibe?“, räsoniert Jungheim.
Auch die Politik ist gefragt
Was ihn ärgert: Dass Alternativen zum Fliegen so teuer sind. Während seines Austauschsemesters in Sevilla möchte er seine Freundin besuchen, die zeitgleich ihr Erasmus-Semester auf Teneriffa verbringt. Es gibt zwar eine Fähre auf die Insel, die zwanzig Stunden Fahrt würde er in Kauf nehmen. Allerdings sei das Fährticket dreimal so teuer wie das Flugticket, erzählt er. Ann-Kathrin Straßer hingegen hat die Erfahrung gemacht: Zugtickets in Schweden und Finnland sind gar nicht mal so teuer. Inzwischen ist sie in Vaasa angekommen.
Ihr Fazit der Reise? „Es hat unglaublich viel Spaß gemacht und ich kann jedem nur empfehlen mit dem Zug nach Finnland zu fahren. Die anderen Erasmusstudenten vor Ort müssen jetzt von Vaasa aus ihre Trips nach Stockholm und Helsinki oder Turku planen und haben dadurch weniger Zeit und Geld. Ich dagegen kann von meiner tollen Reise berichten und habe Zeit, mir den Rest von Finnland anzusehen! Außerdem kommt man viel entspannter in seinem Studienort an und kann dann frisch durchstarten.“
Die Reisenden online begleiten:
Den Verlauf ihrer Reise dokumentieren die Studierenden mit Polarsteps.
Max Pabsts Reise nach Peking: https://www.polarsteps.com/MaxPabst
Florian Jungheims Reise nach Sevilla: https://www.polarsteps.com/irasevilla
Ann-Kathrin Straßers Reise nach Vaasa: https://www.polarsteps.com/AnniStrasser