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Lehre auf Reisen! Zu den Pfahlbauten am Amazonas

18.11.2024

Mit der Summer School flying classroom ermöglichte Architekturprofessorin Myriam Gautschi Studierenden an einem außergewöhnlichen Ort zu lernen: dem Amazonas in Brasilien.

Ganz im Sinne von Erich Kästners „Fliegendem Klassenzimmer“ hat Frau Prof. Myriam Gautschi (Fakultät Architektur und Gestaltung) eine jährlich stattfindende, interkulturelle Architektur-Studienreise in den letzten 10 Jahren an der HTWG etabliert: die Summer School „flying classroom“. Nach Stationen in Südafrika, Indien, Argentinien, China und Frankreich lag das Ziel der diesjährigen Reise am Amazonas. Im Rahmen des vom Land Baden-Württemberg geförderten Programms „Habitat – Lebensräume im Spannungsfeld von Architektur, Kultur und Klima“ brachte die diesjährige Summer School der HTWG im August Studierende der Architektur am Amazonasbecken in Brasilien zusammen. Anliegen war es, ein Wissensinventar zum Thema Pfahlbau-Lebensräume aufzubauen und sich so Bauweisen klimagerechter Architektur anzunähern.

Das besondere Archiv der (Architektur-) Erinnerungen

„Wir reisen zusammen, wir leben und arbeiten zusammen und bauen ein Archiv der Erinnerungen auf“, erzählt Frau Prof. Myriam Gautschi begeistert. Sie ist diejenige, die dafür sorgt, dass jedes Jahr aufs Neue Studierende der HTWG mit weiteren Studierenden aus Brasilien, Uruguay, Frankreich, Italien und Spanien auf die Reise gehen und sich dabei auf architektonischem Gebiet, interkulturell und persönlich weiterentwickeln. Die Aufenthalte vor Ort beinhalten Lehre sowie Publikationen im Anschluss. Der sogenannte „flying classroom“ fördert den Austausch über Landesgrenzen hinweg, und hilft den Kontext des Gegenübers kennenzulernen. Dabei profitieren alle von allen. Die Reise katapultiert die Teilnehmenden tief in andere Welten und fordert sie auf, sich immer wieder neu zu orientieren.

„flying classroom“ - nur mit viel Engagement und Unterstützung möglich

Frau Prof. Myriam Gautschi brennt für ihr Herzensprojekt und sorgt durch ihr herausragendes Engagement dafür, dass Architekturschulen auf verschiedenen Kontinenten miteinander kooperieren, und so der interkulturelle Austausch zwischen Studierenden und Lehrenden ermöglicht wird. Für ihre Leistung wurde sie 2023 mit dem Lehrpreis „Blended Learning“ ausgezeichnet. Das Projekt „flying classroom“ wurde in vielen Jahren auch von der Fördergesellschaft der Hochschule Konstanz e.V. unterstützt.

Die 19 Studierenden der diesjährigen Studienreise sind fest zusammengewachsen. Bereits bei der Ankunft in Belém im Mündungsbereich des Amazonas hatten sich durchmischte Gruppen gebildet. Belém ist eine Hafenstadt, eine Metropole mit 1,5 Millionen Einwohnern - ein kleiner Kulturschock bei der Großstadthektik ist nachvollziehbar. Hier pulsiert die Stadt in einem anderen Tempo, in anderen Farben und erzählt von einer kolonialen Geschichte. Die Gruppe pendelte sich ein in die neue Welt, so lebhaft sie am Firmament flimmerte, einem Gemisch von Fischmärkten, ein- bis zweigeschossigen Kolonialbauten und Hochhäusern, die den Horizont bestimmten.

Folgend wurden erste Flussfahrten gemeistert, erste Pfahlbauten begutachtet. Der nächste Flug führte die Gruppe nach Macapá. Die gewaltige Natur von oben zu sehen, prägte sich in die Köpfe ein. Unvergessen bleibt auch das Springen zwischen den Welten, von Süd- auf Nordäquator und zurück und die Bestimmung des Alltags durch Ebbe und Flut. „Immer wieder ein Abgleichen der Lebensverhältnisse passiert ganz unbewusst und lässt körperlich spürbar werden, in welchem Luxus wir hier in Europa leben“, sagt Myriam Gautschi. Denn am Amazonas wird sich vor allem von Fisch ernährt und eine vegane Wurst gibt es nicht. Dafür gibt es sehr viel Reis, Bohnen und Açai – eine sogenannte Wunderbeere wegen ihrer Vitamine. Hier findet Lebensbildung statt, die fest verankert bleibt und den Horizont erweitert.


Die Pfahlbauten am Amazonas haben sich über Jahrtausende entwickelt

Schlafen in Hängematten auf einem Amazonas Dampfer

Fast Kopf an Kopf schliefen alle auf einer Ebene in Hängematten auf dem gecharterten Dampfer, der die Gruppe zum nächsten Ziel brachte. Moskitonetze, die vor nächtlichen Attacken schützen, waren der einzige Rückzugsraum auf den beiden offenen Decks. Gemeinschaft wurde hier gelebt, auf Augenhöhe gearbeitet. Der Dampfer schlängelte sich durch enge Passagen, um dann wieder den Blick freizugeben auf einen breiten Amazonas, in ungeahnten Dimensionen. Das Ziel war ein Dorf, inmitten von Wasser und Dschungel, dessen Gemeinschaft in Häusern auf Pfahlbauten lebt und wohnt. „O rio commanda a vida, der Fluss bestimmt das Leben. Wir können hiervon so vieles lernen, denn die Menschen hier kämpfen nicht gegen das Wasser, sondern leben mit ihm. Sie grenzen sich nicht ab, sie gehen mit“, fasst es Frau Prof. Myriam Gautschi in Worte. Es ist wie ein lebender Organismus, der gemeinsam im Rhythmus der Natur arbeitet.


Der Amazonas Dampfer, mit dem die interkulturelle Gruppe unterwegs war


In den Hängematten wird auf der offenen Ebene des Dampfers geschlafen


Entwerfen auf dem Boot vor der Vila dos Rodrigues – HTWG-Studentin Lena Buck bei der Arbeit

Dorfgemeinschaft erleben

Emilia Hertweck und Laurin Theobald, beide studieren Architektur im 8. Semester an der HTWG, waren besonders begeistert von dem dreitägigen Dorfaufenthalt mitten im Regenwald. „Wir sind Teil der Dorfgemeinschaft geworden, und hatten einen intensiven Einblick in das Leben der Einheimischen“, berichtet Laurin Theobald. „Unser Schiff war am Steg angelegt und hat sich an die Häuser nahtlos angegliedert. Wir haben das tägliche Leben mit den Anwohner*innen geteilt und eine unvergleichbare Gastfreundschaft erlebt“, sagt Emilia Hertweck. Das Leben mit dem Wasserstand hat sich hier besonders bemerkbar gemacht. Je nachdem wie hoch oder niedrig der Wasserstand war, musste man oben auf dem Schiff oder unten aussteigen. Beide sind sich sicher, dass sie viel für ihre Zukunft gelernt haben – was, wie, warum gebaut wird, wenn solche klimatischen Bedingungen vorliegen, ist ein Zugewinn ohnegleichen. Was krasses Klima bedeutet und wie es unsere Architektur beeinflusst, das ist beiden sehr klar geworden. Die Pfahlbauten am Amazonas haben sich über Jahrtausende entwickelt und sind das Beste, was sich aus der Zeit entwickeln konnte.


Die navale Architektur im Dorf, mitten im Amazonas

Auch die internationale Zusammenarbeit hat die beiden geprägt und ihr Verständnis für verschiedene Arbeitsweisen erweitert. Das Leben auf begrenztem Raum hat beide fasziniert, denn in den Dschungel konnte man aufgrund unbekannter Tiere nicht und auf der anderen Seite war das Wasser. Die nächsten Dörfer sind weiter entfernt, als das in Deutschland der Fall sein könnte, trotzdem sind die Dörfer per Wasserstraße verbunden und die Menschen helfen sich gegenseitig in einem Verbund.


Emilia Hertweck beim Präsentieren der Arbeiten vor Ort. Sie studiert im 8. Semester Architektur an der HTWG


HTWG-Student Laurin Theobald betrachtet eine Installation an der School of Architecture and Urbanism of the University (FAUUSP) of São Paulo

Die Vision

Myriam Gautschi ist sich sicher, Architektur muss man mit allen Sinnen erfahren. Die Lehre und somit die Studierenden müssen bewusst ihre Komfortzone verlassen, erleben, erfahren und die Gemeinschaft spüren. Architektur wird nicht nur über Bücher und Bilder, noch nur über Vorlesungen vermittelt, sondern die eigene Erfahrung, das eigene Erleben ist grundlegend. Deswegen wird auch für jedes Jahr als Erinnerungsarchiv ein Koffer aus Erinnerungen gepackt. Mittlerweile sind es 10 Koffer für die 10 Jahre, weitere werden folgen. Denn interkulturelle Arbeit muss gefördert werden. Durch die Augen der anderen sehen zu lernen, um das Eigene reflektieren zu können. Zum 10-jährigen Jubiläum reiste die „Koffer“-Dokumentationen als Wanderausstellung „Archipelago of Memories“ zu den beteiligten Partnerschulen.

Zum aktuellen Thema HABITAT soll ein Drei-Jahres-Koffer entstehen, der die Verbindungen zwischen Architektur, Kultur und Klima aufzeigt, um gleichzeitig weitere Diskussionen mit neuen Partnern zu eröffnen. Die Cop30 (Weltklimakonferenz der UN) wird nächstes Jahr in Belém stattfinden – dies eröffnet die Chance, das Thema vor Ort inhaltlich zu erörtern. Deswegen war Frau Prof. Myriam Gautschi in der kürzlich stattgefundenen Projektwoche nochmal mit einer Gruppe von fünf Studierenden vor Ort. Diesmal haben sie in demselben Dorf eine Bestandsaufnahme gemacht, analog mit Zollstock, digital mit Drohne und dazu mit den Bewohner*innen der neun Häuser Interviews geführt. Neben der wertvollen Weitergabe von Wissen, sind es vor allem die Menschen am Amazonas, die die Aufenthalte bereichern. Sie gehen voller Herzlichkeit in den Austausch, obwohl nicht dieselbe Sprache gesprochen wird. Die Verständigung findet auf einer persönlichen Ebene statt, die für immer in den Herzen bleibt.